Kinsey Millhone 15 - Gefaehrliche Briefe O wie Opfer
hinausgereicht hätten. Aus dem Jahrbuch wusste ich, dass sie ihren Abschluss mit Auszeichnung gemacht hatte, doch irgendwelche Studienpläne wurden dort nicht erwähnt. Vielleicht hatte sie sich an der University of Louisville eingeschrieben, die für Einheimische sicher nicht teuer war. Denkbar war aber auch, dass sie eine Handelsschule in der Nähe besucht und einen Sekretärinnenkurs gemacht hatte, damit sie bei ihrem Vater arbeiten konnte. Diesen Weg hätte eine brave Tochter damals vielleicht eingeschlagen.
Doch wo hatte sie Mark kennen gelernt? Ganz spontan zog ich das Telefonbuch von 1961 heraus, in dem ich Einträge für einundzwanzig Familien mit dem Namen Bethel und vier mit dem Namen Oaks fand. Es gab nur einen Revel Oaks, und ich notierte mir seine Adresse. Was die Bethels betraf, so hatte ich eine andere Idee, wie ich Marks Familie ausfindig machen konnte. Ich machte mir Kopien der Telefonbucheinträge und der entsprechenden Seiten aus den Adressbüchern und legte sie allesamt zu den Kopien, die ich mir von den Seiten aus den Jahr büchern gemacht hatte. Ich war mir zwar nicht sicher, wohin das führen würde, aber warum sollte ich nicht meinem Gespür folgen? Ich hatte das Geld für das Flugticket hierher bereits ausgegeben, und ich saß bis zum Abflug am nächsten Vormittag hier fest. Was hätte ich sonst tun sollen?
Ich ließ den Mietwagen an und unternahm eine rasche Rundfahrt, indem ich mit dem Haus der Familie Oaks in der 4th Street — immer noch Innenstadt — begann. Das Haus war eindrucksvoll: ein wuchtiger, dreistöckiger Bau aus Stuck und Stein, vermutlich Ende des neunzehnten Jahrhunderts erbaut. Der Stil lag irgendwo zwischen Renaissance und Barock, mit Kranzleisten und kannelierten Säulen, geschwungenen Strebepfeilern, einer Balustrade und Bogenfenstern. Die Außenfarbe war ungewöhnlich: Altrosa, dünn mit Braun übertüncht, als hätte die Fassade diese düstere Schattierung im Lauf der Jahre angenommen. Nach dem Schild auf dem Rasen zu schließen, beherbergte das Haus heute zwei Anwaltskanzleien, einen Gerichtsstenographen und einen Wirtschaftsprüfer. Das Anwesen war weitläufig. Die Steinmauer, die es umgab, war noch zu sehen, ebenso wie die ursprünglichen Torpfosten. Majestätische Eichen beschatteten nach wie vor den förmlich angelegten Garten hinter dem Haus, und am Ende einer gepflasterten Einfahrt konnte ich ein Kutschenhaus erkennen.
Die Adresse der LaDestros lag keine drei Kilometer weit weg, einen Block von der Universität entfernt in einer engen Seitenstraße. Ich sah nach der Nummer, aber das Haus war verschwunden — offensichtlich abgerissen, um Platz für neue Uni-gebäude zu schaffen. Die restlichen Häuser in dieser Straße waren überwiegend längliche, einstöckige Schuhschachteln mit dunkelroten Seitenverkleidungen aus Dachpappe. Deprimierend. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie Laddie aus diesen hässlichen Ursprüngen zu ihrem momentanen Reichtum katapultiert worden war. War sie schon einmal verheiratet gewesen? Damals war ein reicher Ehemann das Mittel der Wahl, durch das eine Frau ihren sozialen Status erhöhen und ihre Aussichten verbessern konnte. Sie musste zwangsläufig darauf gebrannt haben, aus dieser Tristesse herauszukommen.
So lange ich noch in Reichweite der Innenstadt war, suchte ich mir den Weg zur Kreisverwaltung, die im Gerichtsgebäude zwischen 5th und 6th Street auf der westlichen Jefferson untergebracht war. Der Mann an der Information hätte nicht hilfsbereiter sein können, als ich ihm sagte, was ich brauchte — das Aufgebot von Darlene LaDestro und Mark Bethel, von denen ich vermutete, dass sie im Sommer 1965 geheiratet hatten. Ich konnte ihm das genaue Datum nicht nennen, aber ich erinnerte mich an einen Halbsatz von Marks Sekretärin Judy, als sie mir erzählt hatte, dass er sich gleich nach seinem College-Abschluss zum Militär gemeldet hatte. Was wäre nahe liegender gewesen, als Laddie in diesem Sommer zu heiraten, bevor er nach Übersee ging? Außerdem ging ich von der Theorie aus, dass Laddie (alias Darlene LaDestro) ein passendes Objekt für Duncans Interviews gewesen war. Sie war jung, sie war hübsch, und sie war von hier. Es wäre leicht gewesen, an sie heranzukommen, da sie in derselben Stadt wohnten und er sie seit Jahren kannte. Duncans Presseausweis war am zehnten September 1965 ausgestellt worden. Falls er überhaupt mit Laddie gesprochen hatte, dann wahrscheinlich irgendwann zwischen ihrer Heirat, Marks Abreise und
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