Kinsey Millhone 15 - Gefaehrliche Briefe O wie Opfer
Gefälligkeit meinerseits. Er hatte mich nicht engagiert. Er bezahlte mich nicht, und ich hatte nicht das Gefühl, ihm eine Erklärung schuldig zu sein. Allerdings hoffte ich, dass er noch etwas beitragen konnte, einen Teil des Puzzles, den er bisher für sich behalten hatte. Vor allem erinnerte ich mich aber gut an Duffys Wut und Enttäuschung an dem Abend, als er bei Mickey aufgetaucht war. Ich war nicht gerade scharf auf eine Wiederholung, und dies war meine Art, mich selbst zu schützen. Duffys Bruder war umgekommen, und er hatte ein berechtigtes Interesse an der Geschichte.
Ich fuhr zur Gärtnerei hinaus und fand direkt vor den Verkaufsräumen einen Parkplatz. Ich flehte innerlich darum, dass Duffy hier war und nicht im Honky-Tonk. Das Lokal hatte zwar jetzt schon geöffnet, aber ich wagte nicht, noch einmal hinzugehen. Ich hielt es für besser, auf Distanz zu bleiben, da Tim und Scottie ja womöglich begriffen hatten, dass ich es war, die sie verpfiffen hatte. Es war kurz vor halb sechs, also noch hell, und ich fand mich ohne weiteres in den Gängen zurecht. Ich konnte das Dach des Schuppens am hinteren Ende des Grundstücks erkennen und markierte in Gedanken meine Route. Es gab keinen direkten Weg, und ich musste immer wieder zwischen den Bäumen in ihren Kisten abbiegen.
Am Schuppen angekommen, sah ich, dass ein bulliger gelber Gabelstapler vor dem Eingang stand. Mehrere Säcke Mulch lagen übereinander auf den Gabeln. Hoch und kastenförmig, war das Gefährt eine übertriebene Version der Tonka-Toys, mit denen ich als Sechsjährige gespielt hatte. Die Phase war kurz gewesen, irgendwann zwischen Lego und das Ableben der Babypuppe eingeschoben, die ich mit meinem Dreirad umgenietet hatte. Ich trat in den Schuppen und schob die Decke beiseite, die Duffy gegen Zugluft aufgehängt hatte. Er war komplett weggetreten und lag ohne Schuhe auf dem Feldbett. Sein Mund hing offen, und sein Schnarchen füllte den Raum mit Whiskeydämpfen. An die Brust gedrückt hielt er eine leere Flasche Early Times. Eine Socke war halb ausgezogen, so dass seine nackte Ferse heraussah. Er wirkte verdammt jung für einen Mann, der sein halbes Leben im Gefängnis verbracht hatte. Mist, dachte ich. Ich fand eine Decke und warf sie über ihn. Dann legte ich die Hundemarken, den Presseausweis, den Schnappschuss und einen Zettel auf eine Kiste, wo er alles entdecken musste, wenn er aufwachte. Auf dem Zettel stand, dass ich mich am nächsten Tag bei ihm melden und ihm von meinem Ausflug berichten würde. Leise schlich ich mich aus dem Schuppen und ließ ihn seinen Vollrausch ausschlafen.
Ich ging zum Auto zurück und dachte mir dabei, wie oft ich mich mit Typen wie ihm identifiziert hatte. So primitiv er mit seinen rassistischen Bemerkungen, seiner mangelhaften Grammatik und seiner Einstellung zu Kriminalität auch war, verstand ich doch seine Sehnsucht. Es war ja so befreiend, wenn man Autoritäten missachtete, auf Konventionen pfiff und allgemeine Maßstäbe moralischen Anstands ignorierte. Ich wusste um meine eigene Zerrissenheit. Einerseits setzte ich massiv auf Recht und Ordnung, war kleinlich in meinem Urteil und empörte mich über Leute, die die Gesetze von Anstand und Fairness verletzten. Andererseits hatte ich auch schon frech gelogen, gelauscht, Schlösser geknackt oder war mir nichts, dir nichts bei anderen Leuten eingebrochen, hatte in ihren Sachen herumgeschnüffelt und mitgenommen, was ich wollte. Es war zwar nicht nett, aber ich genoss jede Minute meiner Missetaten. Später bekam ich dann Schuldgefühle, aber ich konnte trotzdem nicht widerstehen. Ich war in der Mitte gespalten, mein guter Engel saß auf meiner einen Schulter und Luzifer auf der anderen. Duffy focht den gleichen Kampf, und während er zur einen Seite neigte, neigte ich meist zur anderen und suchte inmitten der Anarchie nach Gerechtigkeit. Das war in meinen Augen das Ausschlaggebende: Wenn die Bösen sich nicht an die Regeln hielten, warum sollten es dann die Guten müssen?
Ich fuhr in die Stadt zurück. Inzwischen war es zehn vor sechs, und ich war kurz vorm Verhungern. Also machte ich einen kleinen Abstecher zum Drive-in-Schalter von McDonald’s und bestellte einen Hamburger Royal mit Käse, eine große Portion Pommes frites und ein Cola zum Mitnehmen. Ich summte vor Vorfreude, während ich auf meine Tüte Leckereien wartete. Ich würde in meine Wohnung zurückfahren, meine Joggingsachen anziehen, mich aufs Sofa lümmeln und mir zu meinem Junkfood
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