Kinsey Millhone 15 - Gefaehrliche Briefe O wie Opfer
Knäueln die Auswahl treffen, ein Sammelsurium des Verlegten, des Vergangenen und des Ausgemusterten. Das Erste, was ich herausangelte, war ein Packen alter Zeugnisse, zusammengehalten von einem schmalen weißen Satinband. Meine Tante Gin hatte sie aus mir unerfindlichen Gründen aufbewahrt. Sie neigte von Natur aus nicht zur Sentimentalität, und die Qualität meiner schulischen Leistungen war es kaum wert, der Nachwelt erhalten zu bleiben. Ich war eine ziemlich durchschnittliche Schülerin und tat mich weder im Lesen noch im Schreiben, noch in Arithmetik besonders hervor. Ich konnte allerdings hervorragend buchstabieren und war gut in Gedächtnisspielen. Ich mochte Geografie und Musik und den Geruch von LePage’s Klebstoff auf schwarzem und orangefarbenem Karton. Die meisten anderen Aspekte der Schule fand ich Grauen erregend. Es war mir zuwider, vor meinen Mitschülern über irgendetwas zu sprechen oder perverserweise aufgerufen zu werden, wenn ich die Hand überhaupt nicht gehoben hatte. Den anderen Kindern schien das Spaß zu machen, während ich vor Entsetzen zitterte. Ich übergab mich beinahe täglich, und wenn mir nicht in der Schule schlecht wurde, versuchte ich, irgendeine Ausrede zu erfinden, damit ich nach Hause oder mit Tante Gin zur Arbeit gehen konnte. Da die meisten meiner Klassenkameraden mir aggressiv begegneten, lernte ich schnell, dass ich mich am effektivsten verteidigen konnte, indem ich meinen Gegner gnadenlos biss. Es gab kaum etwas Befriedigenderes als den Anblick meiner Bissspuren im zarten Fleisch des Armes eines anderen. Vermutlich laufen heute noch Leute herum, die den wutschäumenden Halbmond einer solchen Bisswunde am Leib tragen.
Ich blätterte die Zeugnisse durch, die allesamt ähnlich klangen und einen deprimierenden gemeinsamen Grundton trugen. Als ich die schriftlichen Bemerkungen überflog, stellte ich fest, dass meine Lehrer zu massivem Händeringen und düsteren Warnungen über mein späteres Schicksal neigten. Obwohl ich mit »Potenzial« geschlagen war, war ich offenbar ein Kind, das wenige Vorzüge besaß. Ihren Kommentaren zufolge gab ich mich ausgedehnten Tagträumen hin, spazierte nach Belieben im Klassenzimmer umher, machte die Aufgaben nicht fertig, gab nur selten freiwillig eine Antwort und wenn, dann war sie meistens falsch.
»Kinsey ist durchaus intelligent, wirkt aber abwesend und neigt dazu, sich nur dann zu konzentrieren, wenn ein Thema sie interessiert. Ihre umfassende Neugier beruht auf einem Hang, sich in die Angelegenheiten aller anderen zu mischen...«
»Offenbar fällt es Kinsey schwer, die Wahrheit zu sagen. Sie sollte einmal vom Schulpsychologen untersucht werden, um festzustellen...«
»Kinsey begreift und bearbeitet mit Leichtigkeit Themen, die ihr gefallen, doch fehlt ihr Disziplin...«
»Scheint keinen Gefallen an Mannschaftssportarten zu finden. Arbeitet nicht mit den anderen an Klassenprojekten zusammen...«
»Kann gut selbstständig arbeiten...«
»Undiszipliniert. Widerspenstig.«
»Schüchtern. Schnell gekränkt, wenn man sie zurechtweist.«
»Neigt zu plötzlichem Verschwinden, wenn etwas nicht nach ihrem Kopf geht. Verlässt ohne Erlaubnis das Klassenzimmer.«
Ich studierte mein jüngeres Ich, als läse ich über eine Fremde.
Meine Eltern waren bei einem Autounfall an einem späten Mai-Wochenende umgekommen. Am fünften Mai desselben Jahres war ich fünf geworden. Im September begann ich, zur Schule zu gehen, bewaffnet mit einer Vesperbox, meinem Schreibblock, einem Bleistift Nummer zwei und einer Menge tapferer Entschlossenheit. Aus meinem derzeitigen Blickwinkel kann ich den Schmerz und die Verwirrung erkennen, die ich mir damals nicht einzugestehen wagte. Obwohl ich vom ersten Tag an körperlich unterlegen und furchtsam war, war ich autonom, trotzig und hart wie eine Nuss. Es gab vieles, was ich an dem Kind bewunderte, das ich einst gewesen war; die Fähigkeit, sich anzupassen, die Belastbarkeit, die Weigerung, sich zu fügen. Dies waren Eigenschaften, die ich nach wie vor besaß, jedoch vielleicht zu meinem Nachteil. Die Gesellschaft schätzt Kooperation mehr als Unabhängigkeit, Gehorsam mehr als Individualität und am allermeisten Nettigkeit.
Der nächste Packen beinhaltete Fotos aus derselben Zeit. Auf Klassenfotos war ich normalerweise einen halben Kopf kleiner als sämtliche Mitschüler. Meine Miene war düster, mein Gesichtsausdruck ernst und wehmütig, als sehnte ich mich fort, was ja auch stimmte. Während die anderen
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