Kinsey Millhone 15 - Gefaehrliche Briefe O wie Opfer
aus meiner Klasse direkt in die Kamera blickten, wurde meine Aufmerksamkeit unweigerlich von etwas gefesselt, das sich jenseits des Bildes befand. Auf einer Aufnahme war mein Gesicht verwackelt, weil ich den Kopf gedreht hatte, um zu jemandem in der Reihe hinter mir zu sehen. Schon damals muss mir das Leben etwas abseits interessanter erschienen sein.
Was mich allerdings beunruhigte, war, dass ich mich in den Jahren seither nicht sehr verändert hatte.
Vermutlich hätte ich irgendwo unterwegs sein und nach neuen Klienten Ausschau halten sollen, anstatt mir zu erlauben, mich von der Vergangenheit ablenken zu lassen. Welche Umstände konnten dazu geführt haben, dass Mickeys Habseligkeiten auf einer öffentlichen Versteigerung unter den Hammer kamen? Nicht, dass es mich etwas angegangen wäre, aber schließlich war es gerade das, was die Frage so reizvoll machte.
Ich machte mich erneut über den Pappkarton her und zog ein altes Diktiergerät im Format eines gebundenen Buches heraus. Ich hatte das alte Ding völlig vergessen, da ich mittlerweile Geräte benutzte, die nicht größer waren als ein Kartenspiel. Ich sah, dass eine Kassette eingelegt war, und drückte die Abspieltaste. Nichts geschah. Vermutlich waren die Batterien bereits verbraucht gewesen, als Mickey das Ding zusammen mit allem anderen in den Karton geworfen hatte. Ich zog die Schreibtischschublade auf und nahm ein frisches Paket Batterien heraus, von denen ich vier nacheinander hinten in das Gerät einlegte. Dann drückte ich erneut die Abspieltaste. Diesmal begannen sich die Spulen zu drehen, und ich vernahm meine eigene Stimme mit einem etwas weitschweifigen Kommentar zu dem Fall, an dem ich damals arbeitete. Es erinnerte an historische Daten, die in einen Eckstein eingesiegelt werden, damit sie später gefunden werden können, wenn alle tot sind.
Ich schaltete das Gerät ab, legte es beiseite und fasste erneut in die Kiste. Seitlich hineingeschoben fand ich Munition für die 9-Millimeter-Smith & Wesson, die mir Mickey zur Hochzeit geschenkt hatte. Die Pistole war nirgends zu sehen, aber ich wusste noch gut, wie begeistert ich von diesem Geschenk gewesen war. Der Lauf war im typischen Blau von Smith & Wesson poliert gewesen, und der Kolben war mit einem Schachbrettmuster aus Walnuss mit S & W-Monogrammen versehen. Wir hatten uns im November kennen gelernt und im August darauf geheiratet. Damals war er bereits seit sechzehn Jahren Polizist, während ich erst im Mai zur Truppe gekommen war, nur drei Monate zuvor. Ich nahm die geschenkte Pistole als Beleg dafür, dass er mich als Kollegin sah, ein Status, den er seinerzeit nur wenigen Frauen zugestand. Jetzt entdeckte ich noch eine andere Bedeutung in dieser Geste. Ich meine, was für ein Typ Mann schenkt seiner jungen Braut zu ihrem Hochzeitstag eine halbautomatische Pistole? Impulsiv zog ich meine unterste Schublade auf und suchte nach dem alten Adressbuch, in das die einzige Nachsendeadresse gewandert war, die ich je von ihm besessen hatte. Die Telefonnummer war vermutlich inzwischen freigegeben und ein Dutzend Mal anderen Teilnehmern zugewiesen worden und die Adresse sicher schon ebenso lang überholt.
Ein Klopfen unterbrach meine Überlegungen. Ich wuchtete die Füße vom Schreibtisch und ging zur Tür. Ich spähte durch das Bullauge und sah meinen Vermieter auf der Veranda stehen. Henry trug zur Abwechslung einmal eine lange Hose und starrte mit abwesender Miene in den Garten. Am Valentinstag war er sechsundachtzig geworden; groß und mager, ein Mann, der nicht zu altern schien. Er und seine Geschwister, die achtundachtzig, neunundachtzig, fünfundneunzig und sechsundneunzig Jahre alt waren, besaßen eine derart kraftstrotzende genetische Basis, dass ich schon zu der Vermutung neige, sie werden nie »dahinscheiden«. Henry ist so schön anzusehen wie eine edle Antiquität; handgearbeitet, von ausgewogenen Proportionen und mit einem Glanz, der auf fast neun Jahrzehnte liebevoller Verwendung schließen lässt. Henry zeigt sich seit jeher loyal, direkt, freundlich und großzügig. Er hat mir gegenüber einen Beschützerinstinkt entwickelt, der mir manchmal seltsam vorkommt, aber trotzdem willkommen ist. Ich machte die Tür auf. »Hi, Henry. Was gibt’s? Ich habe dich seit Tagen nicht gesehen.«
»Gott sei Dank bist du da. Ich habe einen Zahnarzttermin, in« — er unterbrach sich, um auf die Uhr zu sehen — »ungefähr sechzehn drei Viertel Minuten, und meine Autos sind beide ausgefallen. Ich
Weitere Kostenlose Bücher