Kinsey Millhone 15 - Gefaehrliche Briefe O wie Opfer
sie an einem sicheren Ort und griff nach Jacke und Handtasche.
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Die Hauptstraße von Colgate ist vier Spuren breit und von einer Reihe von Geschäften gesäumt — von Teppichläden bis hin zu Friseursalons — , dazu gibt’s an jeder zweiten Ecke eine Tankstelle und einen Autohändler in den Blocks dazwischen. Das immer weiter wuchernde, anspruchslose Colgate mit seiner wilden Stilmischung bietet Wohnraum für diejenigen, die in Santa Teresa arbeiten, sich aber nicht leisten können, dort zu leben. Die Einwohnerzahl beider Städte ist etwa gleich hoch, aber ihre Atmosphäre ist unterschiedlich; wie bei Geschwistern, deren Persönlichkeiten ihre jeweilige Stellung im familiären Koordinatensystem widerspiegeln. Santa Teresa ist die Ältere der beiden: elegant und gesetzt. Colgate ist verspielter, weniger auf Konformität erpicht und eher bereit, Unterschiede unter seinen Bürgern zu tolerieren. Wenige seiner Läden bleiben länger als bis achtzehn Uhr geöffnet. Bars, Billardsalons, Autokinos und Bowlingbahnen bilden die Ausnahmen.
Der Parkplatz vor dem Honky-Tonk sah noch ziemlich genauso aus wie vor fünfzehn Jahren. Nur die Autos hatten sich verändert. Waren die Gäste in den siebziger Jahren noch in psychedelischen Schattierungen lackierte Mustangs und VWs gefahren, schienen die Straßenlampen nun auf Porsches, BMWs und TransAms. Als ich den Parkplatz überquerte, spürte ich dieselbe eigenartige Erregung wie damals, als ich Single und auf der Jagd war. In meinem momentanen Bewusstseinsstand käme ich nicht im Traum darauf, durch die Kneipenszene zu ziehen — »Kneipenhüpfen« nannten wir das — , doch damals hatte ich es getan. In den sechziger und siebziger Jahren war dies das angesagte Freizeitvergnügen gewesen. So lernte man Männer kennen. So bekam man Sex. Was die Frauenbewegung »befreite«, war unsere Einstellung zum Sex. Hatten wir früher Sex als Tauschwert eingesetzt, verschenkten wir ihn nun. Ich frage mich, wie viele Prostituierte wir arbeitslos gemacht haben, indem wir im Namen der persönlichen Freiheit sexuelle »Gefälligkeiten« erwiesen. Was hatten wir uns eigentlich dabei gedacht? Das einzige, was wir uns einhandelten, waren Thekenpenner mit Filzläusen.
Das Honky-Tonk hatte expandiert und Raum hinzugewonnen, der zuvor von dem benachbarten Möbelgeschäft beansprucht worden war, das alle sechs bis acht Monate einen Räumungsverkauf angekündigt hatte. Vor der Tür stand eine Schlange. Einer der Türsteher nahm Kontrollen vor, indem er Ausweise durch eine Art Lesegerät schob. Jeder Gast bekam, nachdem er für sauber befunden worden war, die Buchstaben »HT« auf den rechten Handrücken gestempelt. Offenbar dienten die Initialen des Honky-Tonk als Freibrief zum Trinken. So mussten die Kellner und Barkeeper nicht jeden pausbäckigen Gast nach seinem Ausweis fragen, der sich eine Cola-Rum bestellte — das Trinker-Pendant zum ersten BH. Mit einem Tintenzeichen versehen, marschierte ich durch einen Nebel aus Zigarettenrauch und versuchte, ein Gefühl für Alter und Finanzkraft der Lokalbesucher zu gewinnen. Es herrschte großer Andrang von College-Studenten, ungehemmt und mit frischen Gesichtern, deren Naivität und mangelndes Urteilsvermögen sich noch nicht an ihnen gerächt hatte. Der Rest bestand aus chronischen Singles — die gleichen alternden Junggesellen und Geschiedenen, die einander schon damals beäugt hatten.
Noch immer bedeckte Sägemehl den Fußboden. Zwischen der dunkel lackierten Wandtäfelung und der Decke aus Walzblech hingen alte Schwarzweißfotografien an den Wänden, die Colgate zeigten, wie es vor sechzig Jahren gewesen war: idyllisch, unverfälscht und mit wogenden Hügeln, die sich so weit erstreckten, wie das Auge reichte. Die Bilder wurden von greller Bierreklame beleuchtet, deren rote und grüne Neonröhren die verschwundenen Weiden und Sonnenuntergänge bunt färbten.
Daneben hingen unzählige Fotos von lokalen Berühmtheiten und Stammgästen, Aufnahmen, die am St.-Patrick’s-Day, zu Silvester und anderen Gelegenheiten gemacht worden waren, wenn das Honky-Tonk seine Pforten für die Allgemeinheit schloss und private Feiern abhielt. Ich entdeckte zwei Fotos von Mickey, Pete Shackelford und Roy Littenberg im Format 20 mal 28. Das erste zeigte sie in Polizeiuniform, wie sie zum Appell antreten: mit ernsten Mienen und steifem Rückgrat, Recht und Ordnung im Sinn. Auf dem zweiten waren sie schon abgehärtet, Männer, die zu Zynikern geworden waren, Kerle mit
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