Kinsey Millhone 15 - Gefaehrliche Briefe O wie Opfer
alten Augen, die nun über Zigaretten und Whiskeygläser hinweg lächelten und sich gegenseitig lässig die Arme um die Schultern legten. Roy Littenberg war mit mindestens zehn Jahren Abstand der Älteste. Von den dreien war er inzwischen tot, und Mickey hing nur noch mit einem seidenen Faden am Leben. Ich fragte mich, ob es möglich war, sie aus Erinnerungen und Rauch heraufzubeschwören — drei Cops wie Gespenster, so lange sichtbar, wie ich mich nicht umdrehte und versuchte, sie direkt anzusehen.
Zwei lange, schmale Räume verliefen Seite an Seite, gesäumt von hölzernen Nischen. Jeder Raum besaß seine eigene Stereoanlage, und die Musik pulsierte in Wellen gegen sämtliche Sinnesorgane, während ich mich vom einen in den anderen bewegte. Der erste beherbergte die Bar und der zweite eine von Tischen umstandene Tanzfläche. Der dritte, nach meiner Zeit angefügte Raum war groß genug für sechs Billardtische, die allesamt besetzt waren. Männer spielten Tischfußball und Darts. »Mädels« strömten in die Damentoilette und wieder heraus, frischten ihr Augen-Make-up auf und zogen sich die Strumpfhosen hoch. Ich folgte ihnen und nutzte eine freie Kabine, um mich zu erleichtern. In der Kabine daneben konnte ich zwei Frauen hören. Die eine kotzte ihr Abendessen aus, während die andere aufmunternde Kommentare abgab. »So ist’s gut. Verkrampf dich nicht. Du schaffst es. Es kommt gleich.« Hätte ich das Wort zu meiner Zeit je gehört, hätte ich Bulimie wohl für die Hauptstadt eines neu gegründeten baltischen Staates gehalten.
Als ich aus der Toilettenkabine kam, standen schon vier Frauen an. Weitere drei waren vor den Spiegeln zugange. Ich wartete auf einen freien Platz an einem der Waschbecken und wusch mir die Hände, während ich mein Spiegelbild musterte. Die fluoreszierende Beleuchtung verlieh meiner im Grunde makellosen Haut einen krankhaften Anstrich und betonte die Schatten unter meinen Augen. Mein Haar sah aus wie ein Strohdach. Ich trug keinen Lippenstift, aber das war vermutlich besser so, da dieser Zusatz den Gelbstich in meinem alternden Teint verstärkt hätte. Ich trug Mickeys schwarze Lederjacke wie einen Talisman, dazu wie immer alte Blue Jeans und einen schwarzen Rollkragenpullover, obwohl ich meine gewohnten Turnschuhe gegen meine gewohnten Stiefel vertauscht hatte. Im Grunde schund ich nur Zeit, um den Moment hinauszuzögern, in dem ich mich auf einen Barhocker setzen und mir einen Drink bestellen musste. Die beiden jungen Frauen kamen aus der Kabine heraus, alle beide so dünn wie Schlangen. Die Kotzerin zog eine bereits mit Zahnpasta versehene Zahnbürste hervor und begann zu schrubben. In fünf Jahren würde die Magensäure ihren Zahnschmelz zerfressen haben, wenn sie nicht schon vorher tot umfiel.
Ich verließ die Damentoilette, ging rechts an der Tanzfläche vorbei und steuerte auf die Bar zu, wo ich mir ein Bier vom Fass bestellte. Da kein Barhocker frei war, trank ich das Bier im Stehen und versuchte den Anschein zu erwecken, als sei ich mit jemandem verabredet. Hin und wieder sah ich auf die Uhr, als wäre ich ein bisschen verärgert, weil ich nicht den ganzen Abend Zeit hatte. Ich wette, dass sich viele Leute in meiner Umgebung davon täuschen ließen. Ein paar Typen musterten mich aus der Ferne, nicht weil ich so scharf aussah, sondern weil ich Frischfleisch darstellte, das nur darauf wartete, taxiert und markiert zu werden.
Ich klammerte mein Ego aus der Situation aus und versuchte, das Lokal aus Mickeys Sicht unter die Lupe zu nehmen. Was hatte ihn dazu veranlasst, Tim Littenberg das Geld zu leihen? Es war nicht Mickeys Art, solche Risiken einzugehen. Er hielt seine Geldanlagen flüssig, auch wenn ihm das wenig Zinsen einbrachte. Vermutlich war er am glücklichsten, wenn er bei der Vorhangstangen-Spar-und-Kreditanstalt Einzahlungen vornehmen konnte. Tim Littenberg — oder sein Vater — mussten eine Riesenshow abgezogen haben. Womöglich hatte auch Nostalgie eine Rolle gespielt. Lit und seine Frau hatten noch nie gut mit Geld umgehen können. Sie hatten von einer Gehaltszahlung zur nächsten gelebt, stets mit überzogenem Konto, verschuldet und die Kreditkarten bis zum Maximum ausgereizt. Wenn Tim Geld gebraucht hatte, so hatten sie vermutlich nicht genug gehabt, um ihm welches zu leihen. Was auch immer ihn dazu bewogen hatte, Mickey hatte sich offenbar darauf eingelassen. Der Vertrag war unterschrieben, und nun war die Rückzahlung fällig geworden. Ich hatte allerdings
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