Kinsey Millhone 15 - Gefaehrliche Briefe O wie Opfer
dich die Sache ziemlich mitnimmt, aber das sieht dir wirklich nicht ähnlich.«
»Weißt du was? Es sieht mir eben schon ähnlich. Genau so bin ich. Eine Lügnerin und Diebin. Und willst du noch etwas wissen? Mir ist nicht unwohl dabei. Ich bereue rein gar nichts. Mehr als das. Es gefällt mir. Dabei fühle ich mich lebendig.«
Ein Schatten zog über sein Gesicht, und etwas Vertrautes schien davonzuhuschen. Er schwieg einen Moment und sagte dann milde: »Gut. Dann brauchst du ja keinen Vortrag von mir.«
Er war weg, bevor ich etwas erwidern konnte. Die Tür schloss sich leise hinter ihm. Der Teller Brownies war dageblieben. Ich wusste, dass sie noch warm waren, da der Duft von Schokolade in der Luft hing und die Plastikfolie mit Kondenswasser beschlagen war. Ich blieb wie angewurzelt stehen. Ich fühlte nichts. Mein Hirn war, abgesehen von dieser einen Gewissheit, leer. Ich hatte es tun müssen. Ich musste einfach. Etwas in mir hatte sich verschoben. Ich merkte, wie sich die Muskeln in meinem Gesicht vor Trotz verzogen. Es war ausgeschlossen, dass ich lockerlassen würde, ausgeschlossen, dass ich die Finger von der Sache lassen würde — was auch immer dahinter steckte.
Ich setzte mich an den Tresen, stützte die Füße auf die Sprosse des Barhockers und faltete die Zeitung ordentlich zusammen. Dann nahm ich den Umschlag und riss ihn auf. Darin waren zwei Sparbücher für Mickeys Ersparnisse, sechs Kassenquittungen, ein Umschlag mit Flugtickets von Delta Airlines und ein zusammengefaltetes Blatt. Zuerst studierte ich die Sparbücher. Auf dem Ersten waren einmal fünfzehntausend Dollar gewesen, doch das Konto war aufgelöst und der Betrag im Januar 1981 abgehoben worden. Das zweite Sparbuch war im Januar desselben Jahres mit einer Einlage von fünftausend Dollar eröffnet worden. Das war offenbar das Geld, von dem er zuletzt gelebt hatte. Mir fiel auf, dass eine Reihe von Abhebungen in Höhe von sechshundert Dollar den Einzahlungen auf seinem Girokonto entsprachen, allerdings mit einem Abschlag: Mickey hob sechshundert ab, zahlte zweihundert ein und behielt vierhundert als Taschengeld — »Umlaufgeld« hatte er das immer genannt. Ich musste annehmen, dass dies das Kleingeld war, mit dem er seine Kneipenrechnungen, seine Mahlzeiten in Restaurants und seine Supermarkteinkäufe bestritt. Die sechs Kassenquittungen stammten vom 17. Januar, 31. Januar, 7. Februar, 21. Februar, 7. März und 21. März. Die Tinte war verblichen, doch der Name des Lokals war nicht schwer zu entziffern. Das Honky-Tonk. Ich nahm an, dass er irgendwann in der dritten Märzwoche sein Auto verkauft hatte, da er neunhundert Dollar auf sein Girokonto eingezahlt hatte. Der Verlust seines Fahrzeugs konnte erklären, warum seine Besuche so plötzlich abgerissen waren, nachdem er an so vielen Freitagabenden regelmäßig erschienen war. Und warum fuhr er überhaupt den ganzen Weg nach Santa Teresa, um etwas zu trinken, wo es doch in der Umgebung seiner Wohnung auch Kneipen gab? Ich schob die Frage beiseite, da es ohnehin unmöglich war, sie zu beantworten. Bevor ich den letzten Gegenstand untersuchte, holte ich meine Karteikarten hervor und machte mir ein paar Notizen. Es besteht immer die Versuchung, diesen Teil schleifen zu lassen, aber es gab Daten, die ich festhalten musste, so lange ich sie frisch im Gedächtnis hatte.
Nachdem ich alles aufgeschrieben hatte, was mir einfiel, einschließlich der Nummern von Girokonto, Kreditkarten und Sparbüchern sowie die Datumsangaben auf den Kassenzetteln, erlaubte ich mir, weiterzumachen und den Umschlag von Delta zu öffnen, der mich brennend interessierte. Die Flugtickets waren benutzt worden. Ich nahm Reiseplan und Beleg heraus. Mickey war am Donnerstag, den 8. Mai, über Cincinnati nach Louisville, Kentucky, geflogen und am Abend des 12. Mai, einem Montag, zurückgekommen. Dieser fünftägige Spontanausflug hatte ihn allein für die Flugtickets über achthundert Dollar gekostet.
Ich griff nach dem letzten Gegenstand, dem zusammengefalteten Blatt Papier, und las den kurzen Text, der vom 15. Januar 1981 stammte. Es war eine simple schriftliche Vereinbarung zwischen Mickey Magruder und Tim Littenberg, unterzeichnet von letzterem, in der er bestätigte, die Summe von zehntausend Dollar erhalten zu haben, ein zinsfreies Darlehen, das nach fünf Jahren fällig wurde und auf einmal zurückgezahlt werden musste — und zwar am 15. Januar 1986.
Ich nahm die Pistolen und die anderen Gegenstände, versteckte
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