Kinsey Millhone 15 - Gefaehrliche Briefe O wie Opfer
kommen, und dann sorgen wir dafür, dass er heil nach Hause kommt. Er neigt dazu, andere zu belästigen, wenn er so abgefüllt ist. Schlecht fürs Geschäft.«
»Kann ich mir denken.«
Sein Lächeln war auf eine Stelle irgendwo links von mir gerichtet. Er tätschelte mir den Arm. »Ich schaue lieber schnell nach ihm. Ich hoffe, wir sehen uns mal wieder.«
»Da können Sie sicher sein«, sagte ich.
Seine ansonsten aalglatte Fassade bekam nur ganz kurz einen Riss. »Ist mir recht. Wenn Sie was trinken wollen, sagen Sie einfach Charlie Bescheid.« Er fing den Blick des Barkeepers ein und zeigte auf mich. Der Barkeeper nickte, und damit war Tim verschwunden.
Ich wartete etwa eine Minute, stellte dann mein halb volles Bierglas auf der Bar ab und bahnte mir den Weg zu den Münztelefonen am Hinterausgang, neben dem Büro. Ich wollte mich vergewissern, dass ich ihn auch finden konnte, wenn das Lokal geschlossen war. Ich hätte zwar warten können, bis sie zumachten, um ihm dann nach Hause zu folgen, aber ich wollte lieber etwas Direkteres ausprobieren. Ich hievte das Telefonbuch auf die Ablagefläche und schlug seine Adresse und Telefonnummer nach, die unter Littenberg, Tim und Melissa verzeichnet war.
Ich lehnte mich nach links und blickte den finsteren Korridor hinab, in dem ich — neben der Tür, die zum Büro führte — drei weitere, unmarkierte Türen erkennen konnte. Einer der Hilfskellner kam von draußen herein. Ein kalter Luftzug folgte ihm. Ich richtete mich auf, warf eine Münze in den Schlitz, wählte und vernahm eine aufgezeichnete Frauenstimme, die mir auf Minute und Sekunde genau die Zeit verkündete. Ich sagte m-hm, m-hm, als fände ich das alles hochinteressant. Ich wartete, bis der Kellner um die Ecke verschwunden war und in die Bar zurückging.
Um mich herum herrschte Stille. Ich legte den Hörer auf, schlich den Flur entlang und öffnete eine Tür nach der anderen: Besen, Fünf-Liter-Kanister mit Desinfektionsmitteln und auf Regalen gestapelte Küchenwäsche. Hinter der zweiten Tür verbarg sich der Aufenthaltsraum der Angestellten. Darin befanden sich metallene Spinde und zwei Waschbecken, eine Reihe durchgesessener Sofas und jede Menge Aschenbecher, von denen die meisten voll waren. Keine Spur von dem Betrunkenen. Ich fragte mich, wohin er gegangen war. Die dritte Tür war abgeschlossen. Ich legte den Kopf an die Tür und lauschte, doch es war mucksmäuschenstill.
Tims Büro lag direkt gegenüber. Ich überquerte den Flur mit zwei Schritten und fasste vorsichtig nach dem Türknauf. Ich drehte ihn langsam nach rechts und zog die Tür einen winzigen Spalt weit auf. Tim saß an seinem Schreibtisch, wandte mir den Rücken zu und telefonierte. Was er sagte, hörte ich nicht. Ich hoffte schwer, dass er nicht gerade dabei war, einen Auftragskiller auf mich anzusetzen. Leise schloss ich die Tür und schälte meine Hand vom Türknopf, um jedes Klappern oder Klicken zu vermeiden. Höchste Zeit zu verschwinden. Ich wollte weiß Gott nicht, dass mich hier jemand erwischte. Ich kehrte in den Hauptkorridor zurück, wo ich in beide Richtungen blickte. Von einer Alarmanlage war nichts zu sehen; keine passiven Infrarotschranken, keine Zifferntastatur am Hinterausgang. Interessant.
Ein Auge auf den Rückspiegel fixiert, fuhr ich nach Hause. Es gab weit und breit keinen Grund zu der Annahme, dass Tims Telefonat irgendetwas mit mir zu tun hatte. Zwar war er schnurstracks in seinem Büro verschwunden, nachdem ich Mickey erwähnt hatte, aber das war ja wohl Stoff für einen schlechten Film. Warum sollte er mich »eliminieren«? Ich hatte nichts getan. Ich hatte die zehn Riesen, die er schuldig geblieben war, mit keinem Wort erwähnt. Das sparte ich mir fürs nächste Mal auf. Womöglich hatte er sie sogar zurückgezahlt, ohne dass ich davon wusste.
Es war erst zehn Uhr abends. Auf dem Freeway herrschte viel Verkehr, und nichts daran wirkte bedrohlich. Für Tim war ich eine Wildfremde, also konnte er auch nicht wissen, wo ich wohnte oder was für ein Auto ich fuhr. Außerdem gibt es in Santa Teresa kein organisiertes Verbrechen — meines Wissens jedenfalls.
In meinem Viertel angekommen, fuhr ich einmal um den Block und suchte nach einem Parkplatz, der nicht von Finsternis umgeben war. Ich entdeckte lediglich ein einziges unbekanntes Auto, einen dunklen Jaguar, der gegenüber meiner Wohnung am Straßenrand stand. Ich parkte um die Ecke in der Bay Street, um sicherzugehen, dass mir niemand gefolgt war. Ich schloss
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