Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kinsey Millhone 15 - Gefaehrliche Briefe O wie Opfer

Kinsey Millhone 15 - Gefaehrliche Briefe O wie Opfer

Titel: Kinsey Millhone 15 - Gefaehrliche Briefe O wie Opfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
Vom Netzwerk:
Fluggutscheine fehlten — vermutlich waren sie für die Reise verwendet worden — , aber Quittung und Flugroute steckten nach wie vor im Umschlag. Für einen Arbeitslosen war es ein teurer Hin- und Rückflug gewesen. Was steckte dahinter, wenn überhaupt etwas? Der Flug nach Louisville hätte auch eine Privatangelegenheit gewesen sein können. Schwer zu sagen, nachdem wir seit Jahren nicht mehr miteinander gesprochen hatten. Ich legte das Ticket neben die anderen Dinge auf den Schreibtisch und ordnete sie in unterschiedlichen Abfolgen an, als könnte man aus der richtigen Reihenfolge der Dinge eine Geschichte konstruieren.
    Als ich noch ein Kind war, versorgte mich meine Tante Gin immer mit Spielbüchern. Die Spiele und Rätsel auf billigem Papier waren dazu gedacht, mich vorübergehend zum Schweigen zu bringen, damit sie eine Stunde lang lesen konnte, ohne dass ich sie unterbrach. Ich lag dann mit meinem großen, weichen Bleistift und einer Schachtel Buntstifte auf dem Fußboden des Wohnwagens. Manchmal gehörte zu den Aufgaben das Finden und Einkringeln bestimmter Wörter in einem Buchstabenraster; manchmal die Suche nach speziellen Gegenständen auf einem wilden Dschungelbild. Mein Lieblingsspiel war Punkt-für-Punkt, bei dem man ein Bild zeichnen musste, indem man in aufsteigender Reihenfolge nummerierte Punkte auf einer Seite miteinander verband. Während mir die Zungenspitze aus dem Mund lugte, zog ich angestrengt die Linie von einer Zahl zur nächsten, bis sich ein Bild ergab. Ich wurde so gut dabei, dass ich die Zwischenräume zwischen den Zahlen betrachten und das Bild erkennen konnte, ohne überhaupt den Stift aufs Papier zu bringen. Viel Grips erforderte das nicht, da die Zeichnung im Allgemeinen simpel war: ein Teddybär oder ein Leiterwagen oder ein Entchen — ganz primitiv. Trotzdem kann ich mich noch an die aufwallende Freude erinnern, wenn mir die Erkenntnis kam. Woher hätte ich im Alter von fünf Jahren wissen sollen, dass ich mich bereits für mein späteres Berufsleben übte?
    Was ich hier vor mir sah, war lediglich die ausgeklügeltere Version eines Punkt-für-Punkt-Bilds. Wenn ich begriff, inwiefern die Gegenstände zusammenhingen, konnte ich vermutlich eine Vorstellung davon entwickeln, was in Mickeys Leben vor sich ging. Bis jetzt fehlten mir allerdings noch die Zusammenhänge zwischen den Ereignissen. Was hatte er in den Monaten, bevor er angeschossen wurde, getrieben? Die Ermittler mussten viele derselben Fragen verfolgen, aber es war möglich, dass ich Informationen besaß, die ihnen fehlten. Mit dem Ansatz von Gewissen, den ich offenbar entwickelte, wusste ich, dass ich mich immer noch um den Preis für hochstehenden Bürgersinn bewerben konnte, indem ich mit Detective Aldo »teilte«. Im Allgemeinen verschweige ich der Polizei nichts. Doch andererseits konnte ich, wenn ich ein bisschen tiefer grub, den Fall vielleicht selbst lösen und wieder einmal die Entdeckerfreude erleben. Es geht doch nichts über den Moment, wenn schließlich alles zusammenpasst. Also warum sollte ich darauf verzichten, wenn ich mit nur ein klein wenig mehr Mühe alles haben konnte? (Solcherart sind die rationalen Erklärungen, die sich Ms. Millhone zurechtlegt, wenn sie es versäumt, ihren Bürgerpflichten nachzukommen.)
    Ich hob meine Tasche auf den Schreibtisch und begann, ihren Inhalt zu durchforsten, wobei mir Warys Nummer auf der Rückseite einer Visitenkarte unterkam. Vielleicht hatte Mickey ihm irgendetwas über die Reise anvertraut. Ich griff zum Telefon und rief in Los Angeles an. Es war erst Viertel nach zehn. Vielleicht erwischte ich ihn noch, bevor er frühstücken ging. Vor meinem geistigen Auge sah ich Warys Nickelbrille und sein schulterlanges braunes Haar vor mir. Es klingelte zweimal. Dreimal. Als er sich endlich meldete, hörte ich sofort, dass er im Tiefschlaf gelegen hatte.
    »Hey, Wary. Wie geht’s? Hab’ ich Sie geweckt?«
    »Nein, nein«, erwiderte er tapfer. »Wer ist da?«
    »Kinsey aus Santa Teresa.« Schweigen. »Mickeys Ex.«
    »Ach ja, ja. Kapiert. Tut mir Leid, dass ich Ihre Stimme nicht erkannt habe. Wie geht’s?«
    »Gut. Und Ihnen?«
    »Prima. Was gibt’s?« Ich hörte, wie er die Kiefer zusammenpresste, um ein Gähnen zu unterdrücken.
    »Ich habe eine kurze Frage. Hat Mickey irgendetwas über die Reise gesagt, die er nach Louisville, Kentucky, unternommen hat?«
    »Was für eine Reise?«
    »Es war erst letzte Woche. Er ist am achten Mai hingeflogen und am zwölften

Weitere Kostenlose Bücher