Kinsey Millhone 15 - Gefaehrliche Briefe O wie Opfer
etwas?«
Dixie schüttelte den Kopf. »Ich sollte wohl lieber gehen.« Sie nahm ihre Handtasche und begann nach den Schlüsseln zu suchen. »Ich weiß, dass er dich zum Essen eingeladen hat. Eric mochte dich schon immer...«
Tatsächlich ?, dachte ich.
»Er ist ganz wild darauf, dass du uns besuchst, und ich hoffe, du willigst ein. Er könnte es seltsam finden, wenn du die Einladung ablehnst.«
»Jetzt aber mal halb lang. Ich habe euch beide vierzehn Jahre nicht gesehen. Warum sollte es da seltsam wirken?«
»Überleg’s dir einfach. Bitte. Er meinte, er würde dich wahrscheinlich Anfang nächster Woche anrufen.«
»Okay. Ich überleg’s mir, aber ich garantiere für nichts. Mir kommt es unpassend vor.«
»Das braucht es aber nicht.« Sie stand auf und hielt mir ihre Hand hin. »Danke.«
Ich schüttelte ihr die Hand, obwohl ich mich dabei fragte, ob wir einen unausgesprochenen Pakt geschlossen hatten. Sie ging zur Tür, drehte sich mit der Hand auf dem Türknauf um und fragte: »Wie bist du eigentlich bei der Suche nach Mickey vorangekommen? Irgendwelche Fortschritte?«
»Am Tag, nachdem ich mit dir gesprochen habe, standen zwei Kriminalbeamte aus L.A vor meiner Tür. Letzte Woche ist auf ihn geschossen worden.«
Sie schien zu erbleichen. »Er ist tot?«
»Das nicht, aber es geht ihm schlecht. Womöglich überlebt er es nicht.«
»Das ist ja grauenhaft. Entsetzlich.« Genau wie ich fiel es ihr schwer, es zu verarbeiten. »Was ist denn passiert?«
»Wer weiß. Deswegen sind sie ja hergekommen, um mich zu befragen.«
»Aber irgendetwas müssen sie doch wissen. Haben sie schon jemanden festgenommen?«
»Noch nicht. Ich weiß bis jetzt auch nicht mehr über die Sache als das, was sie mir erzählt haben. Er wurde ein paar Blocks von seiner Wohnung entfernt auf der Straße aufgefunden. Das war am Mittwoch letzter Woche. Seitdem liegt er im Koma.«
»Ich... Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
»Du brauchst nichts zu sagen.«
»Lässt du mich wissen, was du erfährst?«
»Warum sollte ich?«
Mit brüchiger Stimme sagte sie: » Bitte .«
Ich ersparte mir eine Erwiderung. Dann war sie weg, während ich dastand und die Tür anstarrte. Es widerstrebte mir, dass sie sich einbildete, ein ebensolches Recht zum Trauern zu haben. Und außerdem fragte ich mich, was sie in Wirklichkeit im Schilde führte.
15
Am Freitagmorgen wachte ich zwei Minuten vor sechs Uhr auf. Ich fühlte mich schlapp und energielos. Jeder Knochen meines Körpers bettelte um mehr Schlaf, doch ich schlug die Decke beiseite und griff nach meinen Joggingklamotten. Ich putzte mir die Zähne und fuhr mir mit dem Kamm durchs Haar, das in alle Himmelsrichtungen abstand, als stünde es unter Strom. Am Gartentor hielt ich inne und machte meine obligatorischen Stretching-Übungen. Dann begann ich mit schnellem Gehen und verfiel in einen Trab, als ich an dem Park anlangte, der sich direkt den Strand am Cabana Boulevard entlangzieht.
Der Morgenhimmel war dicht bewölkt, die Luft dunstig. Ohne die ganze Bandbreite des Sonnenlichts waren sämtliche warmen Rot- und Gelbtöne aus der Landschaft gesickert und hatten eine gedämpfte Palette kühler Töne hinterlassen: Blau, Grau, Graubraun, Mausgrau, Rauchgrün. Der Wind, der vom Meer her wehte, roch nach Strandgut und Seetang. Während meines Dauerlaufs spürte ich, wie sich mein innerer Nebel zu lichten begann. Intensives Training ist das einzige legal erzeugte High, das ich kenne — abgesehen von Liebe natürlich. Egal in welchem innerlichen Zustand man sich befindet, man braucht nur zu laufen, zu gehen, Rad zu fahren, Ski zu fahren oder Kraftsport zu treiben, und schon kehrt der Optimismus zurück, und das Leben sieht wieder gut aus.
Nachdem ich mich von meinem Lauf erholt hatte, fuhr ich zum Fitnessstudio hinüber, das zu dieser Tageszeit nur selten überfüllt ist, da die Fanatiker, die vor der Arbeit trainieren, schon wieder weg sind. Das Studio selbst ist spartanisch eingerichtet, schusswaffengrau gestrichen und mit Industrieteppich im gleichen Farbton wie der Asphalt auf dem Parkplatz vor dem Haus ausgelegt. An den Wänden hängen riesige Spiegel. Die Luft riecht nach Gummi und verschwitzten Achselhöhlen. Die meisten Besucher sind Männer in verschiedenen Stadien körperlicher Fitness. Die Frauen, die hier auftauchen, fallen meist in zwei Kategorien: die extrem mageren Fitnessverrückten, die sich Tag für Tag schinden, und die weicheren Frauen, die nach jedem von Völlerei geprägten
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