Kirchwies
steht er nicht vor der Tür. Also biegen sie auf den Sandweg ein, der zum Hühnerhof führt. Die Hühner interessieren sie nicht, ebenso wenig die beiden jungen Ziegen und das weiß-schwarz gefleckte Lamm. Sie sind schließlich keine Mörder.
Warm ist’s, und es staubt ein wenig, als sie hinter einem Wald voller Brennnesseln die beiden Mäuse ausscharren, die sie vor Tagen dort erlegt und vergraben haben.
»Grad für den hohlen Zahn«, kläfft der braune Kurze.
»Sei nicht undankbar«, erwidert der wollige Dicke. »Man muss alles nehmen, wie es kommt.«
»Hunger!«, knurrt das hochaufgeschossene Skelett.
Beim Schmied hält der Schulbus an. Die drei rümpfen die Nase vor dem Abgasgestank und verfolgen interessiert, wie eine Gruppe Kinder einsteigt. Das eine oder andre Mal hatte ihnen schon mal eines der Kleinen ein Pausenbrot zugeworfen oder ihnen eine verhutzelte Banane hingehalten. Heute nicht. Der Braune bellt auf. Seine Stimme überschlägt sich. Dann überqueren sie auf lautlosen Pfoten gemeinsam die leere Straße.
Sie wenden sich seitwärts, dorthin, wo der Feldbach unweit des Rathauses druckvoll den Hügel hinunterfließt. Sie kühlen sich die Beine im rauschenden Wasser und nehmen ein paar tiefe Schlucke. Das Skelett leckt dem Dicken die Ohren.
Sie biegen in den Libellenweg ein. Ein Sträßchen mit netten Häusern, die man sich leisten kann. Kaum eines hat einen Zaun.
Der Braune bleibt stehen. »Blutgeruch«, winselt er und reckt die Nase in die Luft. »Riecht ihr das auch?«
Die anderen blicken um sich.
»Frischfleisch«, beginnt das Skelett zu jubilieren.
Der Blutgeruch ist da, kein Zweifel. Sie warten eine Weile am Wegesrand. Der Dicke besitzt die empfindlichste Nase. Er versucht zu wittern, woher der Duft kommt.
Langsam, sachte, mit der Nase am Boden streifen sie hinter dem Braunen her. Der Geruch zieht von einem der Häuser herüber, die lieblich aufgereiht am Libellenweg liegen.
Die drei sind jetzt auf der Hut. In der Nähe von Menschen gilt es, vorsichtig, zurückhaltend und geduldig zu sein. Ein Kind schreit in der Nähe. Ein junges Kind. Zwei, drei schwarze Vögel mit gelben Schnäbeln fliegen aufgeregt hintereinander her hinauf zum Wald.
Der Geruch kommt von der Rückseite des Hauses, vor dem sie innehalten und warten. Könnten sie Zahlen lesen, würden sie feststellen, dass es die Nummer achtzehn ist. Die beiden anderen Hunde wenden ihren Blick dem Skelett zu. Das Skelett ist hoch und dünn, man erkennt die Rippen. Das Skelett ist sechseinhalb Jahre alt und eine erwachsene Frau. Sie ist die mutigste. Sie bewegt sich schließlich. Langsam stakst sie entlang der weiß gekalkten Mauer des Hauses Nummer achtzehn. Seltsame Geräte stehen herum. Ungewöhnlich für Menschen, diese Unordnung. Es riecht nach altem Rauch. Das Skelett schnüffelt uninteressiert an einem tropfenden Bierfass. Sie hält die Zunge hin. Und zieht sie eine Sekunde später wieder zurück. Schleckt sich das Maul ab, um den grässlichen Geschmack zu entfernen.
Als sie die Terrasse betritt, heult sie kurz auf.
Der Braune und der Dicke halten das für Triumphgeheul und folgen ihr. So kommt es, dass alle drei gleichzeitig die frische Leiche, einen weiblichen Kadaver, entdecken.
Der Blutgeruch wird stärker. Vorsichtig tappen sie darauf zu. So, wie das Fleisch gelagert ist, wollen sie es nicht verzehren. Sie blicken um sich. Der Dicke entdeckt einen Ort, wohin sie die schwere Beute gemeinsam über den kurz geschnittenen Rasen ziehen – ein Gartenhaus mit kleiner Holzterrasse.
Niemand hat sie bisher entdeckt. Das Schweigen im Dorf ist vollkommen. Sie sind jetzt alle drei sehr hungrig. Hunger ist ihnen nicht fremd. Jede Gelegenheit, ihn zu stillen, nutzen sie. Sie sind wild lebende Tiere und kämpfen zu jeder Zeit ums Überleben. Gnadenlos.
Wolken sind aufgezogen und werfen kühle Schatten auf den Rasen. Nachdem der Braune mühsam einen Turnschuh von einem Fuß gezerrt hat, beginnen sie, das weibliche Bein von unten her abzunagen. Kein Knurren, kein Futterneid. Es ist genug da. Während sie gierig fressen, beginnt es leicht zu regnen.
Erster Teil
eins
Schlecht gelaunt und schweißgebadet wachte Max Campari auf. Seine Gänseherde unten im Garten schnatterte wie blöd. Es gab zwei Gründe für sie, sich aufzuregen. Erstens, wenn sie ihr Spiegelbild in den Kellerfenstern erkannten, und zweitens, wenn die Kirchenglocken läuteten. De facto regten sich die depperten Viecher also die ganze Zeit auf. In diesem Fall galt
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