Kirchwies
dann war ein Geständnis gefolgt, das den Pater Timo fast aus dem Beichtstuhl gefegt hätte. Das »Geh hin in Frieden« war ihm diesmal nur sehr schwer über die Lippen gekommen. Als wenn dickflüssige schwarze Lava aus seinem Mund gequollen wäre.
Heute Nachmittag würde er die Frau vom Beichtstuhl wieder treffen. Bei dieser Housewarming Party am Libellenweg. Sauschwer für einen Pfarrer, dachte er, dann so zu tun, als wüsste er von nichts.
Pater Timo richtete seinen Blick in die Höhe. Er war wie verliebt in seine Kirche. Er empfand eine beinahe menschliche Zuneigung zu ihr.
Das barocke Gotteshaus war einschiffig, hatte einen Hochaltar, zwei Nebenaltäre, kunstvoll geschnitztes Gestühl und eine Orgel aus dem achtzehnten Jahrhundert, die Balthasar Barfüßer d. Ä. zugeschrieben wurde. Der Glockenturm darüber hatte sich vor Monaten schon etwas zur Seite geneigt. Es waren Ritzen und Risse entstanden, in denen im nächsten Frühjahr die Schwalben nisten würde. Falls dann der Turm noch stand.
Es tat Timo weh, wenn er daran dachte und, so wie jetzt, den Blick nach oben richtete. Manchmal sah er den Turm wie einen Betrunkenen schwanken, und er fragte sich, ob die Vorstellung real war oder sich in seinem Kopf abspielte. Eines aber wusste er: Es fühlte sich an, als ob er selbst ein Krebsgeschwür hatte.
»Frühstück is feddich«, ertönte eine Stimme hinter ihm.
Fanny, seine ältere Schwester. Die Fanny sah nicht nur aus wie Dürers Mutter, sie sprach auch das gleiche Fränggisch wie jene. Sie machte Timo den Haushalt, seit er die Gemeinde Kirchwies als Pfarrer übernommen hatte.
Gemächlich drehte er sich um und zog eine Braue hoch. »Ich sprech grad mit dem Herrn Jesus«, sagte er, um eine vorwurfsvolle Tonlage bemüht.
»Ja freili«, sagte die Fanny, »und mein schönes Frühstück wird kalt.«
Die Geschwister waren im Knoblauchland in der Nähe von Nürnberg aufgewachsen. Vater Postbeamter, Mutter fleißige Hausfrau. Timo geriet dem Vater nach, Fanny der Mutter. Eine stinknormale Familie also. So hatte es Pater Timo einmal im Dorf erzählt, kurz nachdem er die Pfarrei übernommen hatte.
»Du wirst einmal Beamter so wie ich. Das ist was Sicheres. Beamte werden immer gebraucht.« Dieser Satz seines Vaters hatte Timo über Jahre verfolgt. Deshalb stieg er nach dem Abi ins Physikstudium ein, doch sein Hang zum Philosophischen war stärker. Nach dem dritten Semester wechselte er ins theologische Fach. »Gott hat die Theologie erfunden, um etwas mehr über sich selbst zu erfahren.« Diesen Spruch hatte er im achten Semester geprägt.
Fanny machte eine Ausbildung als Hauswirtschafterin. Nach Stellen beim 1. FC Nürnberg, im Regensburger Schloss und in der Hotellerie folgte sie ihrem Bruder nach Kirchwies. Man konnte sagen, dass sie gläubiger war als ihr gläubiger Bruder. Sie glaubte nicht an das, was in den Büchern stand, sondern daran, was sie im Kopf hatte. Fast fanatisch mutete sie manchmal an. Es hieß, sie sei mit ihren über fünfzig Jahren noch Jungfrau, weil sie sich für den Herrn Jesus aufheben wollte.
Die beiden lebten wie ein altes Ehepaar zusammen. Timo war der gutmütige Philosoph, Fanny die energische Hausmeisterin, Gärtnerin und Köchin. Jeder hatte seine Gewohnheiten und seine Marotten, sie zankten sich, sie vertrugen sich, sie mochten sich. Pater Timo lag es nicht, den Boss und Geldgeber raushängen zu lassen. Doch wenn es sein musste, vermochte er durchaus auf den Tisch zu hauen, um zu zeigen, wer der wahre Herr im Haus war.
»Na, schmeckt’s dir?«, fragte die Fanny und schenkte Kaffee nach.
Die Terrasse des Pfarrhauses lag nach Osten. Genau das Richtige also für ein sonniges Frühstück. Am Rand des Rasens spendete blauer und weißer Hibiskus wohltuenden Schatten. Meisen, Finken und Amseln badeten in steinernen Tränken, die Pater Timo speziell für sie auf dem halbhohen Mäuerchen aufgestellt hatte, das ein paar Meter weit entlang des Holzzauns lief. Das Gepiepse der Vögel, ihr Gezwitscher und Geplätscher waren meist die einzigen Geräusche im Pfarrgarten.
»Schmeckt’s?«, fragte die Fanny noch einmal, diesmal ungeduldiger.
Pater Timo nickte und deutete auf seinen vollen Mund. Der Pferdeschwanz bebte.
Wäre Pater Timo kleiner gewesen, hätte er als Sitzriese gegolten. Und der Pater war über eins neunzig groß. Ohne Pferdeschwanz. Dazu kam, dass die Soutane, die er zu jeder Tages- und Nachtzeit trug, ihn noch schlanker und länger machte.
»Von wem ist die Wurst?«,
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