Kirchwies
Sollte sie nun zuerst Campari anrufen oder …
»Mama? Maaaaaaaama!«
… sollte sie zuerst nach Odilo schauen oder ans Festnetztelefon gehen, das wie verrückt schellte.
Schnell rannte sie ins Schlafzimmer. Odilo stand mit nackten Füßen und zuckenden Schultern in einer Ecke und bedeckte sein Gesicht mit den Händen. Er vergoss bittere Tränen. »Mama«, schluchzte er. »Ich will nicht mehr in den Wald. Nie mehr.«
Fritzi hob Odilo vom Boden auf, küsste ihn, presste ihn an sich und griff mit ihm auf dem Arm nach dem Hörer.
Campari war dran.
»Fritzi?«, sagte er unaufgeregt. »Bist du selbst am Telefon?«
Eine beknacktere Frage am frühen Morgen war ihr lange nicht begegnet. Odilo auf ihrem Arm liefen die Tränen übers Gesicht. Sie hatte Mühe, mit dem Wischen nachzukommen. Nein, hier spricht mein Geist, wollte sie Campari schon erwidern. Doch sie beherrschte sich.
»Was gibt’s? Ich muss mich um Odilo kümmern. Ich werde ihn nicht mehr in andere Hände geben. Ihn betreuen lassen wie einen überflüssigen Hund.«
Das, was sie wirklich dachte, sprach sie nicht aus.
»Deswegen ruf ich an«, sagte Campari. »Ich möchte dich herzlich bitten, weiter mitzumachen. Du wirst sicher noch mehr als andere dran interessiert sein, zu wissen, wer deinen Sohn entführt hat.« Ohne ihre Antwort abzuwarten, fuhr er fort. »Ich hab das sichere Gefühl, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen dem Mord an Thea und der Entführung deines Jungen. Was meinst du?«
Was war in Campari gefahren? »Eine tolle Erkenntnis!«, spottete sie. »Hast du vergessen, was auf dem Zettel steht?«
Er lachte trocken. »Natürlich nicht, nur – wer sagt denn, dass der Täter nicht eine falsche Spur legen wollte? Ebenso wie mit den Rechtschreibfehlern. Ich hoffe auf ein baldiges Ergebnis aus München.«
Er legte eine Pause ein. Fritzi hielt das Gespräch schon für beendet.
»Ach ja«, kam er noch einmal zurück. »Hätte ich fast vergessen. Die Spusi hat was gefunden. Ganz in der Nähe des Baums, an den Odilo gebunden war. Die Leute sind noch vor Ort. Ich dachte, das könnte dich interessieren.«
elf
Am mittleren Nachmittag machte sich Campari vor der Tür zum Blumenhof bemerkbar. Er saß im Sattel eines Haflingers und hielt die Zügel eines zweiten Haflingers in der Hand, an dessen Sattel wiederum ein Pony festgemacht war. Über ihnen spannte sich ein typisch bayerisch weiß-blauer Himmel. Die Pferde warfen nur kurze Schatten.
Campari wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. »Wir machen einen kleinen Ausflug«, sagte er. »Wir werden Bruni treffen.«
»Den Spurensicherer?« Fritzi war sprachlos. »Zu dritt?«, hakte sie nach. »Mit Odilo?«
Er nickte verhalten. »Mit Odilo. Ich weiß ja, er kann reiten.«
Zum Fuchssteig und zum Feldbach war es nicht weit. Es ging sanft bergauf, es war nahezu die gleiche Strecke, die sie in der vergangenen finstren Nacht mit Lampen und Fackeln zurückgelegt hatten. Allerdings blieben sie diesmal auf dem Forstweg.
Als sie um eine unübersichtliche Kurve kamen, wären sie fast mit Heidi zusammengestoßen. Hinter ihr tummelte sich eine kleine Horde Menschen, die ausgerüstet war, als wollte sie den Mount Everest besteigen. Sie hatten sich gegen alles gewappnet. Gegen Steinschlag, Bergrutsch, abgehende Lawinen, wilde Wölfe, reißende Gebirgsbäche. Ganz vorn saß hechelnd der Braune. Heidis Hund.
»Ich führe eine Wandergruppe«, entschuldigte sich Heidi.
»I hob denkt, ihr wollt einen Krieg gegen Österreich anzetteln«, bellte Campari halblaut.
Heidi und ihre Wandergruppe hatten sich gerade von einem Rastplatz erhoben. Der Müllkorb daneben war voll bis zum Anschlag.
»Kommt, lass uns hier kurz Pause machen«, schlug Campari vor und wies auf eine grob gezimmerte Sitzgruppe aus Holz, während Heidi mit ihrer Truppe weiterzog.
Sie stiegen ab, Fritzi half Odilo von seinem Pony. Campari machte die Pferde fest.
»Mama, ich muss mal.«
Fritzi kümmerte sich darum.
Campari breitete währenddessen eine Landkarte und einige Fotos auf dem braunen, rissigen Holztisch aus und nahm auf der Bank davor Platz.
»Schau dir das einmal an«, sagte er zu Fritzi, als die beiden aus dem Wald zurückkehrten. Er deutete auf die Karte. »Hier liegt der Libellenweg 18. Hier ist mein Haus, in dem Odilo sich aufhielt, während Margot zu ihrem Jour fixe war. Und hier die Stelle, wo wir Odilo gefunden haben. Hier sind die Aufnahmen von Theas Fundort.«
Noch bevor Fritzi einen Blick auf das schreckliche
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