Kirchwies
mit Odilo?, wollte sie brüllen, sodass alle Welt es hörte. Du solltest doch auf ihn aufpassen, wollte sie hinausschreien. Wo ist er jetzt?
Doch in ihrem Innern war nur ein weißes Rauschen, und was sie hinausschreien wollte, konnte niemand hören. Sie nahm sich vor, einzuatmen. Sie hob den Kopf und sog die Luft in tiefen Zügen ein.
Einen kurzen Augenblick lang schämte sie sich, dass ihre Beine versagten. Sie knickten einfach ein.
Kraftvoll packte Margot sie an den Ellenbogen und fing sie auf.
Fritzi saß mit nackten Füßen und leerem Blick am kalten Steinboden. Sie senkte den Kopf auf die Knie und schlang die Arme um den Nacken. »Wo ist er?«, fragte sie erschlafft.
Als sie Margots leeren Blick sah, kannte sie die Antwort. Ein einziges Fragezeichen. Sie fühlte sich wie nach einem K.o. im Ringstaub.
Nie war sie k. o. gegangen. Hatte sie überhaupt jemals aufgegeben? Nein, hatte sie nicht. Weder im Ring noch sonst im Leben. Neue Kraft erwachte in ihr. Ihre Handflächen schoben Margots Hilfe fort, und sie stützte sich an der Wand ab, um auf die Beine zu kommen.
Sie meinte ein entferntes Röcheln zu hören. Bis sie merkte, dass es aus ihrem eigenen Mund kam. Sie weinte nicht, ihr Gesicht war trocken. Sie hustete und würgte, doch ihr Magen war leer.
Sie musste an das Sonnenblumen-T-Shirt denken.
»Was genau ist passiert?«, rief sie und sah Margot strafend an. »Wie ist es passiert?«
Es war eine Sache von Sekunden, dass sie wieder zu sich selbst fand. Odilo würde nicht gefunden werden, wenn sie hier am Boden saß.
Sie zwang sich zu handeln.
Ihre Stimme klang rau, als sie befahl: »Gehen wir!«
Die beiden Frauen machten sich sofort auf den Weg. Felix Breitenberg und seine Kamera nahmen sie mit.
Unterwegs berichtete Margot, wie sie das Haus vorgefunden hatte und was sie zu wissen glaubte.
Das Raunen von Stimmen hörten sie und den Lichtschein sahen sie schon von Weitem. Über den Bergen war es stockdunkel. Als sie zu Heidis Blumenkreisel kamen, trafen sie auf die anderen. Hauptsächlich die Männer waren es, ausgerüstet mit Taschenlampen und Fackeln. Wie ein unheimlicher Schweigemarsch. Campari ging voran, Pater Timo am Ende. Mittendrin die Heidi, deren blonder Schopf ab und zu aufleuchtete.
Fritzi drang ein süßlicher Duft in die Nase, der Erinnerungen in ihr wachrief. Es war Odilos Lieblingsduft. Stundenlang konnte er sich im Garten neben dem Spalier aufhalten, in dem das Geißblatt mit seinen weißen und roten Blüten hochrankte. »Mama, Jelängerjelieber«, sagte er dann voller Stolz. »Ja, so heißt es auch«, antwortete sie dann.
Dieses süßliche Aroma war überwältigend. Es musste von Heidis Tankstelle kommen, die sie gerade passierten. In den Abendstunden drang es durch alle Ritzen in die Häuser, kroch in alle Räume, die Schlafzimmer und Schränke, schlich sich ins Innere von Bücherregalen und Schubladen, tränkte Kleidung, Vorhänge und Gardinen, haftete an Wänden und Türen und sickerte durch die sechs Öffnungen, die der Körper hat, in die Seelen der Menschen hinein und machte sie trunken.
»Odilo!«, flüsterte Fritzi im Gehen. »Oh lieber Gott, mach, dass wir Odilo finden.«
Der Schein der Lampen und Fackeln irrte gespenstisch über die Fassaden der urigen Holzhäuser in der Dorfstraße. Der Zug passierte den Schmied, die Sparkasse und den Brunnerbeck. Mit den gedämpften Gesprächen und dem Murmeln der Menschen kam sich Fritzi vor wie bei einer Bergmesse.
Margot hatte sich neben Campari eingereiht. »Denkst, der Kleine ist weggelaufen?«, fragte sie ihren Mann.
Im Gehen sah er sie nachdenklich an. »Zunächst dachte ich das. Die Terrassentür war zurückgeschoben. Er muss sie geöffnet haben. Warum sollte er das sonst getan haben?«
»Habt ihr im Blumenhof nachgesehen? Vielleicht hat er einfach Heimweh gehabt?«
»In jeden Winkel, jeder Ecke«, knurrte Campari mürrisch. »Dort war er nicht.«
»Warum ist die Fanny denn nicht dabei?«, fragte Margot. »Wenn sogar Pater Timo mitmarschiert, könnte sie ihm doch die Stange halten.«
»Sie strickt«, knurrte Campari. »Hat wenigstens der Pater behauptet. Sie strickt Kindermützen für den Weihnachtsbasar.«
Den Journalisten schickte Campari wieder weg. »Journalisten«, brummte er verächtlich. »Die behaupten hinterher immer, alles vorher schon gewusst zu haben. Der sammelt doch nur Stoff für eine Sensationsmeldung.«
Bald trennte man sich. Wo sollte man suchen? Der Bub konnte überall sein. Die einen stiegen den
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