Kirschenküsse
Mädchen aus der Malereigruppe sah mich ganz entsetzt an und stammelte dann: »Entschuldige, das wollte ich nicht.«
»Schon gut«, entgegnete ich. Ohne vorher zu gucken, wer mich da bekleckert hatte, hatte ich dieses Mädchen angemotzt, aber so wie sie reagierte und eben weil ich sie gar nicht kannte, wollte ich ihr keine böse Absicht unterstellen. Wäre es allerdings Norman gewesen, hätte ich vielleicht sogar meinen verdünnten Orangensaft geopfert und ihn damit begossen. Aber so zog die Malerin weiter und ich musste mit dem Fleck auf der Schulter leben. Wie sich beim Nachsehen herausstellte, war es ohnehin nur Wasser, das trocknen würde. Die Malerin hatte wohl nur noch Mineralwasser bekommen.
Ich schaufelte nun weiter meinen Hackbraten und den Kartoffelbrei in mich hinein, und dabei fragte ich mich, ob es hier so etwas wie Künstlermobbing gab. Vielleicht hatte es ja noch jemand anderes auf mich abgesehen, nicht nur Norman. Vielleicht hatte der auch jemanden angestiftet, der mir zusätzlich das Leben schwer machen sollte. Auch wenn sich die anderen Jungs nichts anmerken ließen und mich auch nicht blöd anmachten, war es doch möglich, dass sie alles über mich wussten und heimlich über meine angeblich große Nase lachten.
Doch da sagte eine Stimme in meinem Kopf: Sina, du bist paranoid!
Und obwohl ich, was Norman anging, meist nur das Schlimmste erwartete, war es doch besser, nicht hinter jedem Vorfall irgendeine Aktion von ihm zu erwarten. Zumal er ja auch viel zu weit weg gesessen hatte, um mich am Saftautomaten anschubsen zu können. Wahrscheinlich war das einfach nur ein blödes Missgeschick von jemandem gewesen, der es vermutlich gar nicht gemerkt hatte.
Am Nachmittag arbeitete ich weiter an meinem Entwurf, der mir mittlerweile schon etwas besser gefiel. Kam das, weil Anett ihn auch gut gefunden hatte? Oder wirkte die Schlossluft auf mich? Keine Ahnung, aber während ich zeichnete und klebte, vergaß ich alles andere um mich herum. So hatte ich mir diese Woche vorgestellt!
Als es Abend geworden und damit der Kurs für heute beendet war, entließ uns Frau Tizian in unsere Zimmer. Die Blöcke wurden uns mitgegeben, damit wir noch ein wenig an den Entwürfen arbeiten konnten, wenn wir wollten.
Nach dem Abendbrot, das diesmal friedlich verlief, ging ich wieder zum See. Unterbewusst hoffte ich, auf Thomas zu treffen, doch in erster Linie wollte ich das Leben auf dem See beobachten, während alles ringsherum immer leiser wurde.
Die letzten Touristen waren gegangen, nur die Parkreiniger machten noch ihre Runden. Eine Entenfamilie schwamm ruhig über den See, und ab und zu glaubte ich, ein Fischmaul an der Wasseroberfläche auftauchen zu sehen, das nach Entengrütze schnappte.
Eine Schnake landete vor mir auf dem Wasser und auf wundersame Weise sanken ihre haardünnen Beine nicht darin ein, sondern blieben darauf stehen wie auf einem gespannten Seidentuch.
Als ich mich fragte, wie das sein konnte, gesellte sich Anett zu mir.
Zuerst hatte ich gedacht, die Schritte würden Thomas gehören, doch nun hoffte ich, dass er nicht doch noch auftauchte, denn sonst hätte Anett den anderen bestimmt erzählt, dass ich hier ein heimliches Treffen mit dem Gärtner hatte.
»Na, wie gefällt es dir bisher?«, fragte sie, rupfte einen langen Grashalm ab und platzierte ihn zwischen ihre Daumen. Dann blies sie dagegen, doch mehr als ein klägliches Pfeifen kam dabei nicht heraus.
»Schade, bei meinem Bruder funktioniert das immer«, sagte sie und warf den Grashalm ins Wasser.
»Wie lange hast du das denn schon geübt?«
»Och, ’ne Weile. Aber irgendwie will es bei mir nie klappen. Mein Bruder, dieser Schnösel, zeigt mir einfach nicht, wie es geht.«
»Vielleicht solltest du ihn bestechen. Mit einem Matchbox-Auto oder ’nem Comicheft oder so was.«
»Ich glaube, das zieht bei ihm nicht mehr«, entgegnete Anett abwinkend. »Der ist schon siebzehn und hat nur noch Mädels im Sinn. Denen führt er den Trick vor, um sie zu beeindrucken.«
Sofort dachte ich wieder an Thomas, der ja auch ungefähr in diesem Alter sein musste. Ob er auch nur Mädels im Kopf hatte?
»Was ist mit dir, hast du Geschwister?«, verscheuchte Anetts Frage meine Gedanken.
»Nein, ich bin allein«, antwortete ich noch etwas abwesend. »Äh, natürlich nicht richtig allein, ich habe noch Vater und Mutter, aber keine Geschwister.«
»Hab schon verstanden, wie du das meinst«, entgegnete Anett lachend und ich stimmte mit ein, weil ich mich so
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