Kirschenküsse
Punkt.
»Am Ende dieser Woche werden die besten Entwürfe prämiert, also strengt euch an. Vor euch liegen Block und Stifte, außerdem könnt ihr bei mir noch andere Materialien bekommen.« Sie deutete auf einen Koffer an der Wand, der uns bisher noch nicht aufgefallen war. »Entwerft ein Modell, das ihr euch zutrauen würdet zu nähen. Es muss nicht perfekt sein, und ihr braucht auch nicht die Roben nachzuempfinden, die ihr gestern auf den Gemälden gesehen habt. Hauptsache, es ist originell!«
Kaum hatte sie ihren Satz beendet, ploppten bereits die ersten Kappen der Filzstifte. Carla gab ein gelangweiltes »Pfff« von sich. Oder kam ihr das Frühstück wieder hoch? Wenn sie überhaupt etwas von dem »fetten« Zeug gegessen hatte …
»Gibt es hier einen Preis für den, der als Erster fertig ist?«, raunte ich Anett zu, die gerade erst nach einem der Stifte griff.
»Keine Ahnung«, antwortete sie. »Aber wahrscheinlich glauben einige, dass sie einen guten Eindruck machen, wenn sie rasch an die Arbeit gehen.«
Ein erneuter Blick zu Nicole ließ meinen Mut doch ein wenig sinken. Die ersten Striche formten sich auf ihrem Blatt bereits zu einem erkennbaren Outfit. Offenbar hatte sie sich bereits die ganze Nacht – oder eher schon seit Wochen – Gedanken darüber gemacht.
Klar, auch ich wollte mich nicht blamieren, also schnappte ich mir auch einen Stift und dachte nach.
Mit meinem Gothicentwurf für den Teilnahmewettbewerb lag ich ja anscheinend nicht ganz falsch, was die Originalität anging. Und wenn man es noch mit den Kleidern aus der Galerie kombinierte …
Ich zeichnete einfach munter drauflos, eine Mischung aus dem historischen Gewand und den Sachen, die Ivy sonst so trug. Heraus kam ein Kleid, wie ich es aus einer Trickfilmserie zu kennen glaubte. Würde ich das auch so in echt umsetzen können? Meine bisherigen Näharbeiten waren ja eher klein gewesen im Gegensatz zu dem, was ich jetzt vorhatte. Nur Mut, Sina, sagte ich zu mir selbst. Du wirst es schon hinbekommen!
Nach und nach gingen nun einige Mädchen nach vorn, um sich zusätzliches Material abzuholen. Als ich mich ihnen anschloss – es konnte ja nicht schaden, ein bisschen Spitze, Samt oder Glitter aufzukleben –, kam ich an Normans Platz vorbei.
Er hatte tatsächlich auch schon etwas zu Papier gebracht.
Ich hätte ihn ja für den Totalverweigerer gehalten, aber offenbar machte ihm die Sache hier doch nicht so wenig Spaß, wie er vorgab. Sein Outfit war natürlich eines für Jungs und nicht mal schlecht gezeichnet.
Um die Zeichenkünste meiner männlichen Klassenkameraden war es nicht sonderlich gut bestellt, unsere Kunstlehrerin schlug regelmäßig die Hände über dem Kopf zusammen. Doch Norman hatte ganz offensichtlich Talent, etwas, das ich ihm gar nicht zugetraut hätte. Nur warum zog er dann so ein Gesicht? War das alles nur Show, damit niemand über ihn lachte? In der Schule hätte ich es vielleicht noch verstanden, aber die Jungen, die sich hier auf dem Papier abmühten, teilten doch alle sein Schicksal. Wozu sich hier noch immer als King aufspielen?
Offenbar schien er meinen Blick zu spüren, denn plötzlich sah er auf. Wäre die Feindseligkeit in seinen Augen ein Boxhandschuh gewesen (so einer, der in Trickfilmen immer aus Kastenteufeln springt), wäre ich jetzt bestimmt k. o. zu Boden gegangen.
Rasch sah ich wieder weg, doch Normans Blick haftete weiter auf mir. Er verfolgte mich so lange, bis sich endlich andere hinter mir in der Schlange einreihten.
Frau Tizians Koffer war sicher der Traum jedes mode- und schmuckverrückten Mädchens. Neben Bändern und Spitzen in verschiedenen Farben befanden sich darin alle möglichen Arten von Pailletten und Perlen. Aus Glas und aus Holz, einige glänzten wie der Pechsteinring, den ich mal von Mona bekommen hatte, andere schienen aus Stein geschnitten zu sein. So eine Auswahl hatte ich noch nie gesehen!
Zunächst wusste ich nicht, wofür ich mich entscheiden sollte. Doch als die anderen hinter mir murrten, nahm ich rasch ein paar schwarze Jet-Perlen, außerdem weiße und schwarze Spitze und ein rosafarbenes Satinband.
Als ich zu meinem Platz zurückkehrte, beugte sich gerade Nicole darüber. Carla war ebenfalls in Reichweite. Das gefiel mir gar nicht! Wollten sie etwa abschauen? Nicht dass ich mich für genial hielt, aber ich glotzte doch auch nicht auf ihre Blätter! (Obwohl ich beim Vorbeigehen einen verstohlenen Blick auf die Werke der anderen geworfen hatte.)
Als ich bei ihnen
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