Kirschenküsse
soeben die beste Geschichte seines Lebens erzählt. Doch etwas dazu sagen wollte er anscheinend nicht, deshalb ergriff ich die Initiative.
»Ich habe gehört, dass es hier Kirschbäume geben soll«, sagte ich, denn ich wollte nicht, dass er wie gestern gleich wieder abhaute. Damit, dass es im Schloss gleich Frühstück geben würde, brauchte er mir um diese Zeit nicht zu kommen.
»Ja, die gibt es wirklich. Im japanischen Garten.«
»Kann man da jetzt hin?« Ich wusste immer noch nicht, wo sich dieser Teil des Parks befand, deshalb hoffte ich auf seine Begleitung.
»Klar«, antwortete Thomas, aber das war nicht die Antwort, die ich haben wollte. Offenbar musste ich noch deutlicher werden.
»Kannst du mir zeigen, wo sich dieser Garten befindet?«
Aber bitte nicht nur mit Handzeichen!
Doch Thomas griente breit. Hatte er mich etwa durchschaut?
»Klar doch. Schwimmen kann ich nachher auch noch.«
Er hängte sein Handtuch über einen der Stegpfosten, dann bedeutete er mir, mitzukommen.
»Hast du keine Angst, dass es geklaut wird?«, fragte ich, worauf er den Kopf schüttelte.
»Nein, keine Sorge, mir ist hier noch nie ein Handtuch weggekommen.«
Da war Norman auch noch nicht auf dem Gelände, entgegnete ich in Gedanken und folgte ihm dann einen schmalen Kieselweg entlang, den uns Herr Heidenreich bei der Parkbesichtigung unterschlagen hatte. Der Weg gehörte aber ebenfalls zu der offiziellen Besucherroute, und ich fragte mich, ob unser Reiseleiter damit noch etwas Besonderes vorhatte.
Auf jeden Fall sah ich ihn vor allen anderen!
Schweigend liefen wir nebeneinanderher, doch ich empfand es nicht als unangenehm, nichts zu sagen. Vielmehr bestaunte ich alles um mich herum und genoss die Stille und Einsamkeit, die um diese Uhrzeit hier herrschte. Na ja, besser gesagt, die Zweisamkeit!
Nach einer Weile kamen die Kronen der Kirschbäume in Sicht. Selbst auf hundert Meter hätte ich sie von anderen Bäumen unterscheiden können.
Das Gelände war ein wenig abschüssig, eine Treppe aus großen Steinen führte ganz sacht in die Tiefe.
Der Garten machte der Bezeichnung »japanisch« wirklich alle Ehre. Nun war ich kein Experte auf diesem Gebiet, aber vor einigen Wochen hatte ich einen Samuraifilm im Fernsehen gesehen. Darin ging es um einen amerikanischen Soldaten, der von japanischen Kämpfern gefangen genommen wurde. Nachdem sich der Fürst der Samurais mit ihm angefreundet hatte, liefen beide durch einen Garten, der ähnlich angelegt war wie dieser.
Ein kleiner Bach schlängelte sich durch das Gelände, wahrscheinlich war er ein Ausläufer des Sees. Hier und da musste er eine Kaskade aus Steinen überwinden und plätscherte dann in einem kleinen Wasserfall auf die nächste Ebene. Die Kirschbäume waren auf dem Gelände verteilt, wahrscheinlich nach einem Feng-Shui-Prinzip, das ich nicht durchschauen konnte.
Während in dem Film die Kirschbäume in voller Blüte gestanden hatten, waren sie hier voll belaubt und die Äste bogen sich unter Kirschen.
So viele Kirschen trug nicht einmal der Baum vor unserem Haus!
Vor lauter Staunen über die vielen rot leuchtenden Früchte bemerkte ich gar nicht, dass die Vogelscheuchen, die aus den Kronen ragten und leise raschelten, ein wenig störend wirkten.
Kirschen! Gäbe es statt des Krümelmonsters ein Kirschmampfmonster, ich würde mich sofort um diese Stelle bewerben! Und wenn ich dafür eine Mappe meiner besten Kirschmünder und Kernweitspuckrekorde anlegen müsste!
»Die sind ja der Wahnsinn!«, platzte es aus mir heraus. »Werden die den Gästen gegeben oder behält sie der Schlossherr für sich?«
»Du magst Kirschen wohl«, stellte Thomas scharfsinnig fest.
»Über alle Maßen!«, entgegnete ich begeistert und fühlte mich wie ein Rennpferd vor dem Start. Nur die Angst, dass Thomas mein Vorstoß nicht recht sein könnte, hielt mich davon ab, loszurennen und einfach eine Handvoll zu pflücken.
Doch er schien denselben Gedanken zu haben. »Dann komm, holen wir uns ein paar. Ich zeig dir, wo die besten hängen.«
Ich folgte Thomas zwischen den Ästen hindurch, die so tief hingen, dass einem die Kirschen beinahe schon ins Gesicht klatschten. An einem der Bäume, der wahrscheinlich der älteste von allen war, machten wir schließlich halt. Unter seine Äste hatten bereits Stützen gestellt werden müssen, damit sie nicht abbrachen.
»An diesem Baum sind die Kirschen meist zuerst reif. Wunder dich nicht über den Geschmack, er ist ein wenig anders als bei den
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