Kirschenküsse
Kirschen, die man im Laden kaufen kann.«
Während Thomas noch sprach, kaute ich bereits.
Er hatte recht, diese Kirschen schmeckten anders als die Wasserbomben im Supermarkt. Sie waren reif und süß und hatten zwischendurch ein nussiges Aroma. Sie schmeckten beinahe wie die Kirschen, die bei meiner Oma im Garten wuchsen.
»Die sinn guud«, sagte ich mampfend, wofür ich sicher von meiner Mutter einen Rüffel bekommen hätte. Aber Thomas schien nichts dagegen zu haben, dass ich mit vollem Mund sprach.
»Wirklich?«, fragte er grinsend.
Ich schluckte. »Ja, wirklich. Tausend mal besser als die aus dem Supermarkt!« Und damit er mir auch tatsächlich glaubte, setzte ich hinzu: »Wir haben auch einen Kirschbaum, aber selbst seine Früchte sind nicht so gut wie diese hier.«
»Wenn das so ist, dann nimm dir welche mit.«
»Das kannst du einfach so bestimmen?«, neckte ich ihn.
»Das kann ich. Auch wenn ich nicht der Schlossherr bin.« Wieder grinste er und ich war selbst von mir überrascht, wie locker ich plötzlich war. Die Kirschen schienen Wunder zu wirken.
Thomas deutete nach oben auf die improvisierten Vogelscheuchen. »Die Stare hier sind ziemlich schlau. Nur die jungen, unerfahrenen lassen sich von einem Stück flatternder Plastikfolie verscheuchen. Die alten Vögel fliegen darunter hinweg und holen sich die Kirschen von den Ästen, die die Folie nicht erreicht. Deshalb sollten wir uns jetzt auf jeden Fall ein paar Kirschen sichern.«
Wir pflückten beide zwei Hände voll, dann fragte Thomas: »Versprichst du mir was?«
»Ja klar!«, antwortete ich, während ich mir zwei an den Stielen zusammenhängende Kirschen über das rechte Ohr hängte.
»Hol dir welche, wann immer du willst und niemand hier ist. Aber pflück nicht so viele und verrate vor allem den anderen nicht, dass es hier Kirschen gibt.«
Ich nickte, und es gefiel mir, dass wir mit meinem Versprechen eine Art Pakt schlossen. Den Kirschenpakt, wenn man so wollte.
»Gut, dann darfst du hier den Star spielen.«
Ich grinste ihn an. »Und das ganz ohne Casting!«
Einen Moment lang blickte er mich ein wenig unverständig an, dann prusteten wir los.
Schwarz, rosa, weiß
Vollgefuttert mit Kirschen kam ich wieder beim Schloss an.
Ich hatte mich entschlossen, alles, was ich gepflückt hatte, auf dem Weg zu essen, um unangenehme Fragen zu vermeiden und den Kirschenpakt zu erfüllen.
Inzwischen waren alle anderen auch schon auf den Beinen, wie man unschwer hören konnte. Der Lärm drang durch die Flure, als ich die Treppe hinaufstieg. Mit dem Anziehen würde ich mich beeilen müssen, denn der Spaziergang zum japanischen Garten hatte doch länger gedauert, als ich gedacht hatte.
Auf dem Flur kamen mir ein paar Jungen entgegen. Ich hatte ja geglaubt, dass Tuscheln eigentlich eine Mädcheneigenschaft war, doch diese kleine Gruppe steckte sofort die Köpfe zusammen und glotzte mich an, als sei mir ein Horn gewachsen. Und auf einen von denen stand Anett? Mit Thomas konnte keiner von ihnen mithalten!
»Was hast ’n da am Ohr!«, quakte mich schließlich einer der Glotzer an.
Ich wollte schon »So was nennt man Ohrring!« zurückgeben, da bemerkte ich, dass doch noch etwas anderes an meinem Ohr bammelte.
Der Kirschenohrring! Den hätte ich beinahe vergessen.
Ich nahm ihn ab und schob mir die Kirschen rasch in den Mund. Die Jungs gackerten darüber wie die Hühner, aber ich war ihnen dennoch irgendwie dankbar, denn sie hatten mich vor den Fragen der anderen bewahrt.
Nach dem diesmal unfallfreien Frühsport und dem Frühstück, das ebenfalls ohne Zwischenfälle wie verschüttetes Wasser oder heruntergefallene Gläser ablief, fanden wir uns wieder im Seminarraum ein.
Heute wurde es ernst! Stoffe, Figurinen und Nähzeug wurden verteilt und wir sollten uns an die Arbeit machen. Das war das erste Extra des Tages. Oder sollte ich besser sagen, die erste Katastrophe?
Auf einmal kam ich mir vor, als hätte ich zwei linke Hände und alles vergessen, was ich mit Ivy durchgegangen war. »Hast du schon mal was genäht?«, fragte ich Anett, die neben mir saß. »Ich meine, so richtig?«
»Puppenkleider«, flüsterte sie zurück. »Und die Puppen haben sich nicht beschwert. Und du?«
»Stoffblumen und Armstulpen«, antwortete ich betreten.
»Tröste dich, was das Zuschneiden angeht, habe ich genauso wenig Ahnung wie du. Gemeinsam werden wir das schon hinbekommen!«
Frau Tizian erklärte uns nun, dass die Modelle letzten Endes von Profischneiderinnen
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