Kirschroter Sommer (German Edition)
an eine Tortur.
Über mangelnde Aufmerksamkeit konnte ich mich also, was Alex betraf, nicht beschweren. Eine andere Person dagegen … meldete sich überhaupt nicht.
Eigentlich sollte ich mich glücklich schätzen, aber irgendwie tat ich das nicht. Stattdessen machte ich mir Gedanken. Ich fand es im Nachhinein äußerst seltsam, wie rührend er sich um mich gekümmert hatte. Natürlich könnte man sagen, dass selbst ein Mensch wie Elyas Schwarz in solchen Momenten einen gewissen Anstand besaß … Aber erklärte das wirklich alles?
Auch wenn ich von meinem Grundgedanken nicht vollends abkam, ließen sich kleine Ungereimtheiten einfach nicht erklären. Elyas war mir nicht etwa zufällig begegnet oder gezwungen gewesen, mir zu helfen – nein. Er hatte mich aus freien Stücken aufgesucht, nachdem er die für Alex bestimmte Nachricht auf dem Anrufbeantworter abgehört hatte. So schnell, wie er bei mir eingetroffen war, musste er gleich danach ins Auto gesprungen sein. Weshalb hatte er nicht Alex‘ Heimkunft abgewartet und ihr das Problem überlassen? Je mehr Tage nach dem Unfall vergingen, desto mehr Kopfzerbrechen bereitete mir diese Frage. Und auch wenn mir das jetzt fast ein bisschen peinlich war, so hatte ich doch bereits drei mögliche Erklärungen dafür gefunden. Die Erste und eigentlich am wenigsten denkbare: Elyas mochte mich. Selbstverständlich war das völlig absurd, dennoch gab es ein paar Anzeichen, die unter Umständen darauf hindeuten könnten.
Die zweite und schon wesentlich realistischere Erklärung: Es war eine günstige Gelegenheit für ihn gewesen, sich bei mir in ein besseres Licht zu rücken. Vielleicht hatte er sich dadurch erhofft, seinem Ziel, eine Nacht mit mir zu verbringen, ein bisschen näher zu kommen.
Und die dritte, wahrscheinlich zutreffende Möglichkeit: Er besaß einfach Anstand und ich war nur eine typische Frau, die in alles viel zu viel hineininterpretierte!
Ich verdrehte die Augen über mich selbst und seufzte.
Wenn man mal von seiner Reaktion absah, gab es da aber immer noch meine eigene, über die ich mich mindestens genauso wunderte. Ein derartiger Gefühlsausbruch, wie ich ihn vor Elyas gehabt hatte, war bei weitem nicht typisch für mich. Ich war ein Mensch, der sich nicht gerne anmerken ließ, wenn es ihm nicht gut ging. In dieser Beziehung konnte ich nicht aus meiner Haut. Umso unerklärlicher war es, warum ich ausgerechnet ihm gezeigt hatte, wie es wirklich in mir aussah. Ich hatte sogar zugelassen, dass er mich in den Arm nahm.
Wahrscheinlich war das rein auf meinen Schockzustand zurückzuführen. Hoffte ich zumindest.
Was neben all diesen Merkwürdigkeiten aber noch den größten Klärungsbedarf hatte, war, dass er sich nicht meldete. In den letzten Monaten war kaum ein Tag vergangen, an dem er nicht unerwartet, und vor allen Dingen unerwünscht, aufgetaucht war oder mich zumindest mit seinen nächtlichen Anrufen vom Schlafen abgehalten hatte. Doch jetzt – nichts.
Es war nicht so, dass es mir fehlte …
Doch verdammt, so bescheuert es war, es fehlte mir tatsächlich. Und der Grund, warum er sich nicht meldete, würde mich brennend interessieren.
Ich griff nach einer Haarsträhne und wickelte sie mir um den Finger. Aber was sollte schon für ein Grund dahinter stecken? Wahrscheinlich rentierte sich für ihn baggern einfach nur nicht, wenn er wegen der Entfernung ohnehin nicht zum Zug kommen konnte.
Der einzige Kontakt zwischen uns hatte vier Tage nach dem Autounfall stattgefunden, als ich mich endlich dazu aufraffen konnte, ihm eine SMS zu schreiben. Es war längst überfällig gewesen, mich bei ihm zu bedanken.
Hey Elyas,
ich habe wirklich lange überlegt, was ich dir schreiben soll.
»Danke« ist wohl das Wort, das es am ehesten trifft, wobei es nicht unbedingt originell ist. Ich hoffe, du verstehst trotzdem, was ich damit meine.
Vielen Dank, Elyas.
Grüße Emely
Zehn Minuten später hatte ich seine Antwort erhalten:
Keine Ursache. Ich drücke die Daumen, dass es deiner Mutter bald wieder besser geht. Aber Schatz, falls du denken solltest, in meiner Schuld zu stehen, kannst du dich natürlich jederzeit revanchieren. Sagen wir, mit einem Kuss? Ich finde, das wäre angemessen.
Wie dem auch sei, sieh jedenfalls zu, dass du bald wieder nach Hause kommst. Alex kaut mir von morgens bis abends ein Ohr wegen Sebastian ab und ich halte es keinen Tag mehr länger aus. (Ja, das war ein Hilferuf!)
Ich hoffe, dir geht es gut.
Grüße
E.
Ich hatte sein
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