Kiss and kill: Thriller (German Edition)
Wochen? Sein Verstand täuschte ihn, so dass er seinen eigenen Gedanken nicht mehr glaubte. Er wusste nicht mehr, wie lange er hier war. Sechs Monate? Zehn? Ein Jahr? Ihm kam es vor wie eine Ewigkeit.
Er hatte ein anderes Leben gehabt, ein gutes. Aber das war fort. Es wurde ihm genommen und durch eine Existenz ersetzt, die weder Leben noch Tod war, sondern ein vages, teuflisches Fegefeuer, in dem er gefangen war.
Er hörte, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte, dann die schweren Schritte der Wachen, die sich entfernten, und schließlich nur noch sein eigenes Herzklopfen. Nachdem er sich zum Sitzen aufgerichtet hatte, rutschte er über den harten Boden und lehnte sich mit dem Rücken an die Steinwand. Seine Augen gewöhnten sich allmählich an die Dunkelheit, und er sah auf zu dem kleinen eckigen Fenster hoch über seinem Kopf. In der Ferne blinkte ein Stern. Wenn er an das Fenster herankäme, was nicht der Fall war, könnte er dennoch nicht fliehen. Die Öffnung war kaum groß genug, dass er seinen Kopf hindurchstecken könnte, und mit gekreuzten Gittern gesichert. Selbst wenn es bei schlechtem Wetter hereinregnete, war er dankbar für die frische Luft, die verhinderte, dass er am entsetzlichen Gestank in dem Loch erstickte: von menschlichem Schweiß, Urin und Exkrementen, gemischt mit dem Verwesungsgeruch toter Nager. Sein Magen knurrte vor Hunger.
»Dich auszuhungern gehört zum Training«, hatte York zu ihm gesagt. »Du wirst lernen, dass Gehorsam belohnt wird.«
Von Training verstand er etwas. Die meiste Zeit seines Lebens war er Sportler gewesen, hatte als Kind Football und Baseball gespielt und war später der Star-Quarterback seines Highschoolteams gewesen. Ein Football-Stipendium hatte ihm das Studium an der UT ermöglicht. Er war der Griff Powell gewesen, ein junger Mann, dem es bestimmt war, zu Ruhm und Reichtum zu kommen.
Alles in ihm rebellierte gegen das Schicksal, das ihn hergebracht hatte, in die Welt eines Wahnsinnigen, der Menschen quälte, weil es ihm Vergnügen machte.
Plötzlich hörte er, wie sie seinen Namen rief.
»Griff, hilf mir! Bitte hilf mir!«
»Nic? Nic, Süße, bist du das?«
»Du musst mich finden, bevor es zu spät ist.«
»Wo bist du? Sag mir, wo du bist!« Er streckte die Hand durch die Eisengitter in die Dunkelheit hinaus. »Ich kann dich hören, aber ich sehe dich nicht.«
»Es ist der neunzehnte Tag«, sagte sie, und ihre Stimme wurde schwächer. »Wenn du mich nicht bald findest, ist es zu spät.«
»Nein … nein … nein …«, stöhnte er.
Als Griff aufwachte, war sein Körper von kaltem Schweiß bedeckt. Er holte tief Luft, um den Schmerz in seiner Brust loszuwerden, und warf seine Decke beiseite. Dann setzte er sich im Bett auf und nahm sich ein paar Minuten, um in die Gegenwart zurückzukehren.
Vor Nics Entführung hatte er nur noch sehr selten von seiner Gefangenschaft geträumt. Doch seit sie vermisst wurde, kehrten die alten Alpträume zurück, und nun kam sie darin vor. Seine Vergangenheit und Nics Gegenwart schienen in seinem Unterbewusstsein zu verschmelzen und zeigten ihm die Ähnlichkeiten zwischen York und dem Jäger, seiner Entführung damals und Nics heute.
Griff stieg aus dem Bett, ging zu den Glasflügeltüren, machte sie weit auf und trat hinaus auf den Balkon. Die kalte Novemberluft kühlte seinen nackten Körper. Mit dem Adrenalinschub wurde sein Kopf klarer.
Auf der anderen Seite des Sees, am östlichen Horizont, waren erste schwache Lichtstreifen zu erkennen. Der Anbruch eines neuen Tages. Tag neunzehn.
Weil sie weder eine Höhle noch einen überhängenden Felsen finden und sich auch keinen Unterschlupf bauen konnte, war Nic gezwungen gewesen, mit dem auszukommen, was da war, um sich vor der nächtlichen Kälte zu schützen. Jede Nacht wählte sie eine andere Stelle, an der sie sich ein Bett aus Zweigen, Blättern und Gras auslegte und sich mit demselben Material bedeckte. Aber in der letzten Nacht hatte es ein Gewitter gegeben, das sie bis auf die Haut durchnässte. Sie hatte unter den tiefen Ästen eines Baumes gekauert und durchgehalten, so gut sie konnte. Am Morgen war sie klatschnass, das Haar klebte ihr am Kopf, aber sie musste weiter.
Heute war Tag neunzehn. Sie hatte eine Menge zu tun. Tag E – Tag des Entkommens.
Griffin kannte das Gefühl, gefangen zu sein. Daran erinnerte er sich nur allzu gut. Ihm war unwohl in seiner Haut, seine Gefühle quälten ihn, und er hatte keinerlei Kontrolle darüber, was er dachte oder
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