Kiss and kill: Thriller (German Edition)
Aber falls sie heute nicht entkäme, war sie sowieso so gut wie tot. Es sei denn, sie tötete ihn zuerst.
Nic benutzte ihre fünf Sinne, denn sie wusste, dass sie jederzeit wachsam sein musste und alles um sich herum genauestens beobachten – jedes Geräusch, jede Bewegung, jeden Geruch. Nicht einmal ihre Tast- und Geschmackssinne durften versagen. Obwohl sie schrecklich geschwächt war, musste sie stark bleiben.
Am liebsten wäre sie gerannt wie wild, aber Nic bremste sich, weil sie nicht wusste, wie lange sie laufen müsste, bis sie auch nur erste Zeichen von einer Außenwelt entdeckte. Deshalb bewegte sie sich langsam und achtete darauf, sich ihre ohnehin schon zerschundenen Füße nicht zu verletzen. Ein ganzes Stück vor dem alten Feldweg bog sie in den Wald ab, in entgegengesetzte Richtung, wo sie ein paar kleinere Zweige abbrach und das Unterholz plattstampfte. Dann lief sie auf ihrer eigenen Spur zurück und weiter Richtung Feldweg. Ihre falsche Fährte brachte ihr eventuell einen Zeitgewinn, eventuell auch nicht, je nachdem, ob er ihr folgte oder nicht.
Nic war mehrmals hier entlanggekommen, so dass sie den Weg inzwischen aus unterschiedlichen Richtungen kannte. Sie musste ihre Umgebung im Auge behalten, sich einprägen, wo sie gewesen war und wo sie hinging. Tag für Tag hatte sie die Landschaft buchstäblich in sich aufgesogen. Der Sonnenstand half ihr, nicht bloß die Tageszeit einzuschätzen, sondern auch die Richtung. Sie wusste, dass die Sonne während der Wintermonate eher im Südosten als im Osten aufging.
Pudge genoss das herzhafte Frühstück, das Allegra ihm bereitet hatte: geräucherter Schinken mit kräftiger Sauce, Rührei und köstliche helle Brötchen. Bei seiner dritten Tasse Kaffee sah er in die Morgenzeitung, die seine Haushälterin ihm immer mitbrachte, und malte sich dabei die heutige Jagd aus. Nic erwies sich als würdige Gegnerin, ein fürwahr erstklassiges Jagdwild. Was für ein Jammer, dass das Spiel übermorgen endete.
Umso mehr Grund, den heutigen Tag auszunutzen, so gut er konnte.
Hatte sie die Nacht draußen im Gewitter verbracht, umgeben von Blitzen, durchnässt vom Regen? Natürlich hatte sie. Es gab keinen Unterschlupf auf dem Besitz, und sollte sie nicht irgendwo einen ausgehöhlten Baumstamm gefunden haben, hatte sie sich höchstens unter einen Baum verkrochen.
»Ich fahre heute Morgen wieder mit dem Geländemotorrad los«, sagte er zu Allegra. »Wenn du mit dem Kochen fertig bist und alles geputzt hast, kannst du dich von Fantine abholen lassen. Die nächsten paar Tage brauche ich dich nicht. Ich rufe dann an.«
Allegra blickte zum Gewehr, das in der Ecke nahe der Hintertür an der Wand lehnte. »Haben Sie nicht schon jedes Eichhörnchen, jedes Kaninchen und jeden Vogel in der Gegend abgeschossen?«
»Halt dein Maul, du alte Närrin. Ich nehme mein Gewehr nur zum Schutz mit. Und um ein paar Zielübungen zu machen.«
Er würde sein Frühstück noch ein wenig sacken lassen und sich dann auf die Suche nach Nicole machen, wo er sie gestern Abend zuletzt gesehen hatte. Aber er hatte keine Eile. Sie konnte unmöglich von Belle Fleur entkommen. Nur ein mit dem Leben in den Wäldern äußerst vertrauter Mensch würde je von hier in die Zivilisation zurückfinden, und Pudge wusste, dass Nic ein Stadtkind war, ihr Leben lang schon. Ihr ganzes FBI-Training in Quantico hatte sie nicht aufs Überleben in der Wildnis vorbereitet.
Eine halbe Stunde später hatte Pudge seine Tarnsachen an, das Gewehr über die Schulter gehängt und stieg auf sein hochgetrimmtes Geländemotorrad. Er war bereit für eine weitere erregende Jagd.
Als die Sonne zur Hälfte am östlichen Horizont aufgestiegen war, blieb Nic an dem Bach stehen, der in die gleiche Richtung verlief wie der alte Weg. Sie setzte sich ans Ufer und reinigte sich die blutigen Kratzer und Schnitte. So, wie ihr Rücken juckte, fragte sie sich, ob sie in der Nacht von einem Insekt gestochen worden war. Möglicherweise von einem giftigen.
Sie stand auf und wanderte eilig stromaufwärts. Sobald sie eine geeignete Stelle gefunden hatte, bückte sie sich und nahm mit beiden Händen Wasser auf. Nachdem sie ihr Gesicht gewaschen hatte, trank sie etwas.
Dann verließ sie den Bach, ging über den Weg und in den Wald am Wegesrand. Dort fand sie einen Platz mit dichterem Gebüsch, in das sie sich hineinhockte. Sie musste sich ein paar Minuten ausruhen und neue Kraft sammeln.
In den Tagen und Nächten ihrer Gefangenschaft hatte sie
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