Kissed by an Angel
alle hielten das Gleichgewicht, als sie auf dem Brett auf- und abwippten. Dann fiel Sam hinunter. Er ruderte wie ein riesiger seltsamer Vogel mit den Armen und klatschte ins Wasser.
Ivy schluckte.
Mr McCardell rief sie auf.
Sie kletterte die Leiter hoch, langsam und sicher, Sprosse für Sprosse, das Herz schlug ihr bis zum Hals. Ihre Arme fühlten sich stärker an als ihre wackeligen Beine. Sie zog sich das letzte Stück auf das Sprungbrett hoch, dann blieb sie stehen. Unter ihr kräuselte sich das Wasser in glitzernden Wellen.
Ivy konzentrierte sich auf das Ende des Bretts, wie man es ihr beim Training auf dem Schwebebalken beigebracht hatte, und machte drei Schritte. Sie spürte, wie das Brett unter ihrem Gewicht federte. Ihrem Magen ging es ähnlich, aber sie lief weiter.
»Du kannst anfangen«, sagte Mr McCardell. Ivy konzentrierte sich und versuchte, sich an die Verse zu erinnern und an die Bilder, die die Worte beim ersten Lesen in ihr ausgelöst hatten. Ihr war klar, wenn sie die Verse einfach aufsagen würde, hielte sie nicht bis zum Ende durch. Sie musste die Gedichte richtig vortragen und sich in den Gefühlen des Textes verlieren.
Ihr fielen die ersten Worte des lustigen Gedichts ein, und plötzlich sah sie vor ihrem inneren Auge die Bilder, die sie brauchte: eine herausgeputzte Braut, verdutzte Gäste und ein Gemüsehagel. Weit unter ihr lachten die Zuhörer, als sie die Verse über die Albernheit der Liebe vortrug. Dann, während sie weiterwippte, fand sie den langsameren, traurigeren Rhythmus des zweiten Gedichts:
Wann wirst du weh'n, oh Westwind,
Dass leichter Regen regnen kann?
Gott, wär die Liebste hier in meinem Arm
Und ich erneut in meinem Bette!
Sie wippte noch zwei Takte, dann blieb sie am Ende des Bretts stehen und holte Luft. Plötzlich wurde applaudiert. Sie hatte es geschafft!
Als die Zurufe endlich verstummten, kommentierte Mr McCardell ihren Vortrag mit den Worten »ganz nett«, was aus seinem Mund wie ein großes Lob klang.
»Danke, Sir«, erwiderte Ivy. Dann setzte sie zur Drehung an, um zurückzulaufen.
Sie merkte, wie ihre Knie zitterten und drückte sie schnell durch. Sieh nicht nach unten!
Doch sie musste sehen, wo sie hintrat. Sie holte tief Luft und versuchte es noch mal.
»Ivy, gibt es ein Problem?«, fragte Mr McCardell.
»Sie hat Angst vor Wasser«, platzte Suzanne heraus. »Und sie kann nicht schwimmen.«
Das Becken unter Ivy schien zu schaukeln, die Ränder verschwammen. Sie versuchte, sich auf das Brett zu konzentrieren. Doch sie schaffte es nicht. Das Wasser stürzte auf sie zu, bereit, sie zu verschlucken. Dann wiederum wich es zurück, der Abstand unter ihr schien größer und größer zu werden. Ivy schwankte. Ein Knie knickte ein.
»Oh!« Der Aufschrei der Zuschauer hallte durch den Raum.
Ihr anderes Knie knickte ein und sie rutschte ab. Ivy klammerte sich mit der Verzweiflung einer Katze am Sprungbrett fest. Sie hing halb auf dem Brett, halb in der Luft.
»Jemand muss ihr helfen!«, schrie Suzanne.
Wasserengel, betete Ivy lautlos. Wasserengel, lass mich nicht hineinfallen. Du hast mir schon einmal geholfen. Bitte, Engel ...
Dann spürte Ivy, wie das Brett nachfederte. Sie spürte die Vibration in ihren Armen. Ihre Hände waren feucht und rutschten immer wieder ab. Lass dich einfach fallen, sagte sie sich. Vertrau auf deinen Engel. Dein Engel lässt dich nicht ertrinken.
Wasserengel, betete sie zum dritten Mal, aber ihre Hände ließen dennoch nicht los. Das Brett vibrierte noch immer. Sie rutschte weiter ab.
»Ivy.«
Beim Klang seiner Stimme drehte sie den Kopf und schürfte sich die Wange am Brett auf. Tristan war die Leiter hinaufgeklettert und stand am anderen Ende. »Alles wird gut, Ivy.«
Dann kam er auf sie zu. Das Fiberglasbrett bog sich unter seinem Gewicht.
»Nicht weitergehen!«, schrie Ivy und klammerte sich verzweifelt an das Brett. »Bring es nicht noch mehr zum Federn. Bitte! Ich hab Angst.«
»Ich helf dir. Vertrau mir.«
Ihre Arme taten weh, ihr war schwindlig und ihre Haut war kalt und juckte. Unter ihr drehte sich die Wasseroberfläche, schwindelerregend tief.
»Hör zu, Ivy. So kannst du dich nicht mehr lange an dem Brett festhalten. Dreh dich ein bisschen auf die Seite. Drehen, hast du verstanden? Versuch, deinen rechten Arm freizubekommen. Komm. Ich weiß, du schaffst das.«
Ivy verlagerte langsam ihr Gewicht. Einen Moment lang dachte sie, sie würde einfach vom Brett herunterrollen. Ihr freier Arm ruderte
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