Kissed by an Angel
Zeichen geben könnte -
»Komm her, Philip«, sagte Tristan. »Hol die Figur und bring sie Ivy.«
Philip bewegte sich wie von einem Magnet angezogen auf die Regale zu. Als er nach dem Engel griff, berührte er Tristans Hand.
»Sieh mal!«, rief Philip. »Sieh mal!«
»Was ist denn?«, fragte Ivy.
»Dein Engel, er schimmert.«
»Philip, nicht jetzt«, bremste ihn Gregory.
Philip nahm den Engel vom Regal.
»Möchtest du ihn in deinem Bett haben, Ivy?«
»Nein.«
»Vielleicht verscheucht er die schlimmen Träume«, beharrte er.
»Es ist bloß eine Figur«, sagte sie müde.
»Aber wir können unser Gebet aufsagen, das wird der echte Engel hören.«
»Es gibt keine echten Engel, Philip! Verstehst du das nicht? Wenn es sie gäbe, hätten sie Tristan gerettet!«
Philip berührte die Flügel der Figur. Er betete leise und starrsinnig: »Engel des Lichts, Engel im Himmel, wach über mich heute Nacht. Wach über alle, die ich lieb habe.«
»Sag ihr, dass ich hier bin, Philip«, bat Tristan. »Sag ihr, ich bin bei ihr.«
»Sieh mal, Ivy!« Philip zeigte auf die Figuren, neben denen Tristan stand. »Sie schimmern!«
»Jetzt reicht’s, Philip!«, unterbrach ihn Gregory streng. »Geh ins Bett.«
»Aber -«
»Auf der Stelle!«
Als Philip an ihm vorbeilief, streckte Tristan die Hand aus, doch der kleine Junge ergriff sie nicht. Aus seinem Blick sprach Verwunderung, er schien ihn nicht zu erkennen.
Was konnte Philip sehen?,fragte sich Tristan. Vielleicht dasselbe wie die alte Frau: Licht, irgendein Schimmern, aber keine Gestalt.
Er spürte, wie ihn die Dunkelheit wieder überkam. Tristan kämpfte dagegen an. Er wollte bei Ivy bleiben. Er ertrug es nicht, sie vor Gregory zu verlassen.
Was, wenn er sie zum letzten Mal sah? Was, wenn er Ivy für immer verlor? Er wehrte sich verzweifelt gegen die Dunkelheit, aber sie hüllte ihn wie ein schwarzer Nebel von allen Seiten ein - von vorn, von hinten, von oben, und irgendwann gab er auf.
14
Als Tristan aus dem traumlosen Dunkel erwachte, schien die Sonne hell durch Ivys Fenster. Ihre Laken waren glatt gestrichen, darauf lag ein dünnes Federbett. Ivy war nicht mehr da.
Zum ersten Mal seit dem Unfall sah Tristan Tageslicht. Er lief zum Fenster und staunte über die Zeichen des Sommers, die vielfältigen Formen der Blätter und wie der Wind durch das Gras strich und eine grüne Woge über den Bergkamm schickte. Der Wind. Obwohl sich die Vorhänge bauschten, konnte Tristan die Kühle des Windes nicht spüren. Obwohl das Zimmer sonnendurchflutet war, konnte er die Wärme nicht spüren.
Ella konnte alles fühlen. Die Katze lag ausgestreckt auf einem von Ivys T-Shirts in einem Fleckchen Sonne. Sie begrüßte Tristan, indem sie ein Auge öffnete und leise schnurrte.
»Hier liegt nicht viel schmutzige Wäsche für dich rum, was?«, fragte er und dachte daran, wie die Katze immer auf seine stinkigsten Socken und Trainingssachen abgefahren war.
Die Stille im Haus ließ ihn leise sprechen, auch wenn er wusste, dass selbst wenn er noch so laut brüllte - laut genug, um Tote aufzuwecken, wie man so sagte -, ihn trotzdem keiner hören würde.
Die Einsamkeit war überwältigend. Tristan hatte Angst, dass er für immer so allein sein würde, dass er umherwandern und von niemand bemerkt, gehört oder als Tristan wahrgenommen werden würde. Warum hatte er die alte Dame aus dem Krankenhaus nach ihrem Tod nicht mehr gesehen?
Wo war sie hingegangen?
Tote Menschen kamen auf den Friedhof, dachte er, als er über den Flur zu den Treppen ging. Dann blieb er wie angewurzelt stehen. Er hatte irgendwo ein Grab! Wahrscheinlich neben dem seiner Großeltern. Er eilte die Treppenstufen hinunter, neugierig, was sie wohl mit ihm gemacht hatten. Vielleicht würde er auch die alte Trau finden, oder jemanden, der kürzlich gestorben war und das alles verstand.
Als kleiner Junge war Tristan mehrmals auf dem Friedhof Riverstone Rise gewesen. Er hatte ihn nie als traurigen Ort empfunden, vielleicht deshalb, weil die Gräber seiner Großeltern seinen Vater immer inspiriert hatten, Tristan interessante und lustige Geschichten über sie zu erzählen. Seine Mutter hatte währenddessen Unkraut gezupft und das Grab bepflanzt. Tristan war herumgerannt, auf Grabsteine geklettert, hatte Weitsprung über die Gräber geübt und den Friedhof als Spielplatz und Hindernisstrecke genutzt. Doch das schien ewig her zu sein.
Es war komisch, jetzt durch die großen Eisentore zu schlüpfen -
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