Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kite

Kite

Titel: Kite Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blake Crouch
Vom Netzwerk:
hochzufahren. An der Westseite des Hochhauses befanden sich vier Balkone aus Glas, von denen aus man den Verkehr auf dem Wacker Drive vierhundert Meter tiefer beobachten konnte. Natürlich hatte ich gewusst, dass die Konstruktion stabil war. Schließlich würde keine Versicherung auf der Welt so eine Touristenattraktion versichern, wenn es dort nicht genauso sicher wäre wie daheim auf dem Sofa. Und trotzdem …
    … hatte ich mich nicht getraut, einen dieser Balkone zu betreten.
    In meinem Kopf hatten die Alarmglocken geschrillt und mich davon abgehalten, auch nur einen Fuß auf diese gläserne Plattform zu setzen.
    Natürlich hatte Phin mich deswegen gnadenlos gehänselt.
    Und jetzt …
    »Was hält Sie zurück?«, säuselte Luther mir ins Ohr. »Die furchtlose Jack Daniels leidet doch nicht etwa ein klein bisschen unter Höhenangst?«
    Ein klein bisschen? Sehr viel sogar.
    »Sie sollten jetzt lieber loslegen.«
    Ich griff mit beiden Händen nach der feuchten Strickleiter, hievte mich auf die unterste Leitersprosse und kletterte los. Die Strickleiter dehnte sich unter meinem Gewicht und die Metallsprossen über mir ächzten und quietschten.
    Ich arbeitete mich langsam eine Sprosse nach der anderen hoch. Mein dicker Bauch machte diese Herausforderung nicht gerade leichter. Als ich die erste Metallsprosse erklomm, war die Kälte in der Bärenhöhle vergessen. Jetzt schwitzte ich.
    Das Metall war kalt und nass und die Sprossen kaum breiter als dreißig Zentimeter. Mit meinen feuchten Händen konnte ich mich nur schwer daran festhalten.
    Aber ich dachte nicht nach, sondern kletterte einfach drauflos. Da mein dicker Bauch mich daran hinderte, frontal auf der Leiter zu stehen, hielt ich den Körper zur Seite gewandt.
    Ich hatte gerade fünf Sprossen hinter mich gebracht, als die Leiter unter meinem Gewicht zitterte – ein leichtes Vibrieren, das ich in den Knochen spürte und das mir Angst einjagte.
    Aber ich machte weiter und vermied es dabei, nach unten zu schauen. Stattdessen konzentrierte ich mich auf die nächste Sprosse, den nächsten Schritt, und verbannte alle anderen Gedanken aus meinem Kopf.
    Als ich in halber Höhe angekommen war, hielt ich inne. Nicht aus Angst – ich hatte kein einziges Mal nach unten geschaut, konnte aber die Höhe spüren –, sondern aus purer Erschöpfung.
    »Wie geht’s?«, fragte Luther.
    »Nur ein bisschen verschnaufen.«
    »Ich will ja nicht hetzen, aber Sie haben noch drei Minuten. Ich muss gestehen, ich hoffe ein bisschen, dass Sie es nicht schaffen.«
    Schweiß lief mir in die Augen, und ich blinzelte, als sie davon brannten.
    Ich kletterte weiter.
    Einen Fuß nach oben.
    Dann den nächsten.
    Eine Hand auf die nächste rostige Sprosse.
    Dann die andere Hand.
    Und so weiter.
    Die Bewegungsabläufe wären im Prinzip monoton gewesen, wenn mir nicht jeder Schritt ein Stück mehr Energie abverlangt hätte als der vorherige.
    Wenn es mir nicht so vorgekommen wäre, als würde mein Körpergewicht mit jedem Schritt zunehmen.
    Wenn nicht auch nur ein einziger Fehler ausgereicht hätte, um mich in den sicheren Tod stürzen zu lassen.
    »Sie haben noch genau eine Minute«, sagte Luther.
    Ich stieg mit meinen Füßen auf die nächste Sprosse und langte nach oben, ohne zu schauen.
    Als ich ins Leere griff, drehte sich mir vor Schreck der Magen um. Ich klammerte mich an die Leiter. Meine Beine zitterten vor Erschöpfung und Angst.
    Die nächste Sprosse über meinem Kopf fehlte. Wie es aussah, war sie einfach durchgerostet und abgefallen.
    »Fünfundvierzig Sekunden.«
    Ehe ich mich versah, starrte ich fünfundzwanzig Meter in die Tiefe. Mir war, als ob mir der Boden unter den Füßen weggezogen wurde und ich in freiem Fall nach unten stürzte.
    Ich umklammerte die Sprosse noch fester. Luther lachte und sagte: »Noch dreißig Sekunden, Jack. Wenn ich gewusst hätte, dass Ihnen das so viel Angst macht, hätte ich mir einen höheren Turm ausgesucht.«
    Los, mach schon, Jack. Jetzt gleich. Weiter, weiter, weiter. Du musst es tun.
    Ich langte nach oben. Meine Finger berührten die nächste Sprosse. Ich umklammerte sie so fest, dass meine Knöchel weiß hervortraten, und zog mich hoch. Dabei schaffte ich es mit Ach und Krach, mit meinen Füßen die Lücke zu überwinden, die die fehlende Sprosse hinterließ.
    »Zwanzig Sekunden.«
    Ich kletterte, so schnell ich konnte. Eine Verschnaufpause einzulegen, war ein Luxus, den ich mir nicht leisten konnte.
    »Zehn Sekunden.«
    Noch drei Sprossen

Weitere Kostenlose Bücher