Kite
darin eine Spritze hielt.
»Was ist das?«
»Hundert Milliäquivalent Kaliumchlorid. Wird bei der Hinrichtung durch die Giftspritze verwendet.«
Marquette blickte auf die Spritze und die klare Flüssigkeit in dem zylindrischen Röhrchen.
»Wie wirkt es?«, fragte er.
»Führt zum Herzstillstand.«
»Wie lange dauert es …« Er brachte den Satz nicht zu Ende.
»Bis man stirbt? Zwischen zwei und zehn Minuten.«
»Tut es weh?«
»Ich will Ihnen nichts vormachen. Es ist schmerzhaft, wenn das Herz stehen bleibt. Aber längst nicht so schlimm wie das, was sich hinter diesem schwarzen Vorhang versteckt.«
Die Konversation, die ihm anfangs unwirklich erschienen war, hatte nun eindeutig die Grenze zum Wahnsinn überschritten. »Bin … bin ich bei Bewusstsein, nachdem mein Herz aufgehört hat zu schlagen?«
»Keine Ahnung. Das ist ein Teil des Rätsels, was nach dem Tod kommt, und Sie stehen kurz davor, es herauszufinden. Eigentlich ist das aufregend.«
Marquette ließ seinen Blick über den Hafen schweifen. Im Dunst konnte man die Skyline nur undeutlich sehen.
»Ich bin noch nicht so weit.«
Sein Herz schlug wie verrückt.
»Das ist keiner«, sagte der Mann. »Wissen Sie, ich hätte das überall tun können. Aber ich dachte mir, dass Ihnen diese Stadt bestimmt gefallen hat und dass Sie gerne beim Sterben einen letzten Blick auf die Skyline dort drüben werfen möchten.«
»Ich habe seit zwei Jahren keinen Kontakt mehr mit meiner Tochter. Es war ein dummer Streit.«
»Das sind die meisten Streitigkeiten.«
»Haben Sie … eine Familie?«
»Schon eine ganze Ewigkeit nicht mehr.«
»Ich muss mich bei ihr entschuldigen.«
»Okay.«
Marquette drehte sich vom Fenster weg.
»Von mir aus können Sie sie anrufen.«
»Ist das Ihr Ernst?«
Der Mann zog ein iPhone aus einer Innentasche seiner Jacke und betrachtete es. »Sicher, wir haben ja noch ein bisschen Zeit. Und wie ein Freund von mir immer sagte: Was wäre Mord ohne ein paar kleine Höflichkeiten. Wie lautet ihre Telefonnummer?«
»Oh, danke. Danke.« Er musste einen Augenblick überlegen. Sein letzter Anruf lag schon ein paar Jahre zurück.
Als der Mann die Nummer eintippte, betete Marquette zumersten Mal seit vielen Jahren. Betete, dass ihre Nummer noch dieselbe war. Betete, dass sie ans Telefon ging.
Der Mann hielt das iPhone so, dass Marquette die Nummer auf dem Display sehen konnte. »Ihnen ist doch hoffentlich klar, was
nicht
der Sinn und Zweck dieses Anrufs ist?«
»Ja.«
»Wenn Sie versuchen, Ihre Haut zu retten, indem Sie unseren Standort verraten, oder irgendwas in der Art …«
»Ich verstehe vollkommen.«
Der Mann drückte auf die grüne Ruftaste und reichte ihm das Telefon. »Sie haben genau eine Minute.«
Es klingelte.
Zweimal.
Dreimal.
Nach dem vierten Klingeln hörte er die Stimme seiner Tochter und entging nur mit äußerster Anstrengung einem Nervenzusammenbruch.
»Hallo?«
»Carly?«
»Dad?«
»Baby.«
Bestimmt konnte sie hören, dass er weinte, aber das war ihm jetzt egal.
»Wieso rufst du an? Ist mit Mom alles in Ordnung?«
»Ihr geht’s gut.« Er wandte sich von dem Mann ab, der ihn gleich umbringen würde, und lehnte sich gegen die getönte Fensterscheibe. »Es tut mir leid, Carly. Alles tut mir leid. Du bist mein …«
»Dad, ich hab gerade zu tun … kann ich dich in …«
»Hör mir zu. Bitte. Ich hab dir Unrecht getan, Carly. Großes Unrecht.«
»Hast du getrunken?«
»Nein. Nein. Carly, du bist meine Prinzessin. Das warst duschon immer. Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich dich liebe. Hörst du mich?«
Schweigen am anderen Ende der Leitung.
»Carly?«
»Ich kann dich hören. Dad, ist alles in Ordnung mit dir?«
»Ja. Ich wollte nur …« Er schloss die Augen. Tränen liefen ihm übers Gesicht. »Ich möchte, dass du weißt, was ich für dich empfinde. Was ich schon immer für dich empfunden habe. Unsere gemeinsamen Sommer am Lake Rooney in Wisconsin, mit dir und deiner Mutter … das war die beste Zeit meines Lebens. Ich würde alles geben, nur um das noch einmal für einen einzigen Tag zu erleben. Ich bin so stolz auf dich, Carly.«
Jetzt hörte er, wie sie weinte.
»Noch zehn Sekunden«, sagte der Mann.
»Ich muss jetzt Schluss machen, Liebling.«
»Ich möchte dich sehen, Dad. Ich bin übernächste Woche in Chicago.«
»Das würde mich sehr freuen. Es tut mir so leid, Carly.«
»Dad, ist wirklich alles …«
Marquette spürte, wie ihm das Telefon entrissen wurde.
Er
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