Kite
wischte sich die Tränen aus den Augen und starrte einen Augenblick lang auf den Hafen hinaus.
Dann drehte er sich wieder zu dem Mann um und sagte: »Das hätte ich schon lange tun sollen.«
»Immerhin haben Sie es getan. In meinem Leben gab es Leute, die inzwischen längst tot sind und mit denen ich nie ein solches Gespräch führen kann. Sie sollten sich glücklich schätzen.«
Marquette fühlte sich aber nicht glücklich. Er fühlte sich hundeelend.
»Es wird langsam Zeit, Reggie. Krempeln Sie Ihren linken Ärmel hoch.«
Marquettes Finger zitterten so sehr, dass er dreißig Sekundenbrauchte, um den Knopf an seinem Ärmelaufschlag aufzubekommen.
»Ist Ihr Interesse rein wissenschaftlicher Natur oder glauben Sie wirklich an Ihre Arbeit?«, fragte der Mann, als Marquette langsam den Ärmel des cremefarbenen Hemdes hochkrempelte, das ihm seine Frau vor zwei Jahren zu Weihnachten geschenkt hatte.
»Ich weiß nicht.«
»Ich habe mich selbst sehr intensiv mit Dantes Meisterwerk befasst. Es fasziniert mich. Ich habe eine Frage an Sie.«
»Ja?«
»In welchem Kreis der Hölle werden Sie landen?«
Marquette starrte in die schwarzen Augen des Mannes und sah dort nur entsetzliche Leere.
»Im fünften.«
»Zorn?«
»Die Ursache aller meiner Verfehlungen.«
»Sie sind ein sehr ehrlicher Mensch, Reggie.«
Marquette hatte den Ärmel inzwischen über den Ellbogen gekrempelt. Der Mann sagte: »Das reicht. Drehen Sie den Arm um, damit ich Ihre Venen sehen kann.«
Marquette zögerte, aber nur eine Sekunde lang.
»Verspüren Sie den Drang, Widerstand zu leisten?«
»Natürlich. Es geht ja schließlich um mein Leben.«
»Das kann ich verstehen. Sie müssen sich aber auch darüber im Klaren sein, was hinter dem schwarzen Vorhang auf Sie wartet. Wenn Sie unter Schmerzensschreien und unerträglichen Qualen aus dem Leben scheiden wollen, so haben Sie die Wahl.«
»Das will ich aber nicht.«
Der Mann mit den langen schwarzen Haaren hielt die Spritze hoch, den Finger auf dem Kolben. Er näherte sich damit der bleichen Unterseite von Marquettes Unterarm.
»Versuchen Sie, den Arm ruhig zu halten.«
Marquette hielt sein Handgelenk fest, damit der Arm nicht zitterte. Er sah zu, wie die Nadel in eine blaue Vene drang, und spürte ein leichtes Stechen.
»Gute Reise, mein Freund«, sagte der Mann und drückte mit dem Daumen auf den Kolben.
Als er die volle Dosis in Marquettes Blutbahn injiziert hatte, zog er die Nadel heraus und lehnte sich in den Fahrersitz zurück.
Marquette saß einfach nur da, die Hände auf den Knien.
Er wartete.
Sein Herz raste.
Kalter Schweiß lief ihm an den Seiten hinunter.
Noch spürte er nichts.
Als er aus dem Fenster blickte, sah er ein Pärchen um die dreißig, das mit zwei kleinen Kindern am Seeufer spazieren ging.
Einen alten Mann, der etwa zwanzig Meter entfernt auf einer Bank saß und eine Zigarre rauchte.
Ein Segelboot weiter draußen auf dem See, das Kurs aufs Ufer nahm.
Er flüsterte die Namen seiner Frau und seiner Tochter, und plötzlich traf es ihn mit voller Wucht – so, als hätte jemand sein schlagendes Herz auf die Überholspur einer Autobahn geworfen, wo ein Sattelschlepper mit voller Geschwindigkeit darüber hinwegdonnerte.
Er konnte sich keuchen hören.
Der Schmerz fühlte sich an, als würde jemand heiße Lava in seine Brusthöhle gießen. Nur undeutlich nahm er wahr, dass er auf seinem Sitz wie wild um sich schlug. Seine Augen traten aus den Höhlen, und dann war er plötzlich still, sank gegen die Tür und starrte ein allerletztes Mal zum Fenster hinaus, auf eine Welt, die in sich zusammenfiel.
Er bewegte sich nicht, konnte es nicht, schaffte es nicht einmal, die Augen zu schließen. Er dachte, er müsse jetzt mit offenen Augen sterben, und starrte auf die vertraute Form des Hancock-Gebäudes, das in einer Entfernung von etwa acht Kilometern in den Himmel ragte, bis es für ihn jegliche Bedeutung verlor.
Wikipedia-Artikel über Andrew Z. Thomas
Andrew Ziegler Thomas (* 1. November 1961) ist ein USamerikanischer Schriftsteller. Er hat hauptsächlich zeitgenössische Horror-Romane und Spannungsliteratur sowie Thriller und Bücher über wahre Kriminalfälle verfasst. Seine Bücher erreichten eine Gesamtauflage von über dreißig Millionen und dienten als Vorlage für Filme, Fernsehsendungen und Comics.
Frühes Leben
Thomas wurde am 1. November 1961 zusammen mit seinem Zwillingsbruder Orson in Winston-Salem als Sohn von
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