Klack: Roman (German Edition)
»tadellos« aussehe. Version eins und zwei wurden manchmal auch phantasievoll bis ehrabschneiderisch miteinander vermischt. Version drei war die von Onkel Fritz selbst vertretene. Eigentlich sei er nur der Kunst wegen nach Spanien gegangen, um Velázquez und Goya zu studieren. Ein Zufall habe ihn jedoch an die deutsche Botschaft in Madrid verschlagen, und weil er Deutsch, Französisch und leidlich Spanisch sprach und viel von Kunst verstand, habe man ihn zum Kulturreferenten gemacht, was er immer noch war. Seine eigene Künstlerkarriere habe er zwar opfern müssen, aber das sei ihm allemal lieber gewesen, als sich fürs Vaterland zu opfern. Inzwischen war er fünfundfünfzig, immer noch Junggeselle – meine Mutter sprach das Wort bedeutungsvoll mit gedachten Anführungszeichen aus – und redete davon, demnächst in vorzeitigen Ruhestand zu gehen, sich auf Mallorca eine Finca zu kaufen und wieder zu malen. Was für ein Leben! Hanna und ich waren natürlich von Onkel Fritz fasziniert. Wir sahen in ihm nicht den Diplomaten, sondern nur den unangepassten, weltläufigen Künstler.
Überhaupt nicht fasziniert waren wir von Onkel Ernst, dem Mann von Mamas Schwester Margarete, kurz Grete. Auch Onkel Ernst hatte im Krieg nicht an die Front gemusst, weil er als Schiffbauingenieur in der Rüstungsindustrie unverzichtbar war. Tante Grete hatte er kurz vor Kriegsausbruch während eines Ostseeurlaubs kennengelernt und geheiratet. Sie wohnten seitdem und immer noch in Rostock, und Onkel Ernst arbeitete immer noch auf derselben Werft. Hatte er früher für die Nazis Schiffe gebaut, so baute er jetzt Schiffe für die Kommunisten, und wie er früher angeblich ein überzeugter Parteigänger der Nazis gewesen war, so diente er jetzt mit Leib und Seele dem Aufbau des Sozialismus und spielte eine führende Rolle in der Gewerkschaft. Tante Grete verfügte über keine eigenen Meinungen, oder falls doch, sprach sie nicht darüber. »Falls Grete ausnahmsweise eine eigene Meinung äußern wollte«, hatte Onkel Fritz einmal behauptet, »würde sie erst ihren Gatten fragen, was für eine Meinung das sein soll.« Dass sie zur Beerdigung ihres Vaters anreiste, wurde als selbstverständlich hingenommen; dass auch Onkel Ernst seinem Schwiegervater das letzte Geleit gab, überraschte allgemein. »Will vielleicht den Klassenfeind studieren«, meinte Onkel Fritz und zwinkerte mir zu.
Meine Eltern hatten sich mitten im Krieg während eines Fronturlaubs meines Vaters kennengelernt. Meine Mutter träumte von einem Medizinstudium und arbeitete vorerst als Krankenschwester, und da mein Vater Pharmazie studiert hatte, passten die beiden wohl irgendwie zusammen. Sie verlobten sich gar nicht erst, sondern heirateten Hals über Kopf. Opa war dafür, weil mein Vater Offizier war. Oma war dagegen, weil mein Vater Offizier war und gleich wieder in den Krieg musste. Als Hanna geboren wurde, steckte mein Vater bereits wieder »in Russland in der Scheiße«. Nachdem er unversehrt, körperlich jedenfalls unversehrt, aus dem Krieg heimgekommen war, fand er relativ schnell eine Anstellung in einer Apotheke. Kurz nach meiner Geburt starb der Besitzer, und mein Vater konnte die Apotheke übernehmen. Der Traum meiner Mutter vom Medizinstudium verwehte während der Nachkriegszeit wie der Staub über den Trümmern, und da die Apotheke florierte, fügte sich meine Mutter mehr oder minder klaglos in ihre Rolle als Hausfrau und Mutter. So, befand Oma, gehörte sich das schließlich auch.
Mein Vater hatte auch noch einen jüngeren Bruder gehabt, aber Onkel Eugen war 1944 bei der Schlacht von Monte Cassino gefallen. Hanna und ich kannten ihn nur von Fotos auf Omas Klavier.
Onkel Fritz hatte als Junggeselle keine Kinder, »jedenfalls keine, die wir kennen«, wie Opa einmal angemerkt hatte, vermutlich um anzudeuten, dass Fritz zwar ein Filou, aber unmöglich vom anderen Ufer sein könne. Auch Tante Gretes und Onkel Ernsts Ehe war kinderlos geblieben.
Hanna und ich hatten also weder Vettern noch Cousinen und waren die einzigen Kinder im engeren Familienkreis, der sich nach der Beisetzung im Ratskeller zum Leichenschmaus einfand. Es gab Hühnerbrühe mit Eierstich, gemischten Braten mit brauner Soße, Erbsen und Möhren und Salzkartoffeln und hinterher Vanillepudding mit Schokoladensoße. Wegen der Hitze waren die üppigen Portionen gar nicht zu bewältigen. Nur Tante Grete und Onkel Ernst verschlangen das komplette Menü, als hätten sie seit Tagen nichts zu essen bekommen.
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