Klack: Roman (German Edition)
»Westpropaganda.«
Onkel Fritz lachte.
»Ein jeder kehre vor seiner eigenen Haustür«, sagte Tante Grete salbungsvoll und sah dabei Oma dringlich an.
»Was willst du damit sagen?«, mischte sich jetzt meine Mutter ein, die aber offenbar sehr genau wusste, was ihre Schwester sagen wollte.
»Grete will damit sagen«, dolmetschte Onkel Ernst das geflügelte Wort seiner Frau, »dass eure so überaus demokratische Familie –«
»Wieso eure Familie? Du gehörst doch auch dazu«, sagte mein Vater.
Das überhörte Onkel Ernst mit einem gewissen Recht; immerhin war er nur angeheiratet. »Dass eure Familie und insbesondere das Oberhaupt eurer Familie, das wir eben zu Grabe getragen haben, dem Dritten Reich –«
»Um Gottes willen, Ernst. Grete! Versündigt euch nicht.« Und mit Seitenblick auf Hanna und mich: »Nicht vor den Kindern.« Oma schien einen Schwächeanfall zu bekommen, atmete schwer und fächelte sich mit der Serviette Luft zu.
»– dem Dritten Reich als willfähriger Jurist gedient hat und nur mit Ach und Krach seinen Persilschein bekommen hat.« Onkel Ernst leckte sich Mandelsplitter von den Lippen und blickte triumphierend in die Runde, als hätte er soeben sämtliche Klassenkämpfe entschieden und den Kalten Krieg in friedliche Koexistenz verwandelt.
Einen Moment herrschte Stille.
Schließlich sagte Oma matt, aber angewidert: »Du bist ja ein richtiger Bolschewist. Ich glaube, du gehst besser wieder nach drüben.«
»Gewiss«, sagte Onkel Ernst grimmig.
»Ja«, sagte Tante Grete.
Dann wieder Schweigen.
»Ich denke, wir zahlen jetzt«, sagte mein Vater und winkte dem Kellner.
»Was ist denn ein Persilschein?«, fragte ich in aller Unschuld, weil ich das Wort zuvor noch nie gehört hatte.
Mein Vater warf mir einen strengen Blick zu. »Jetzt fang du nicht auch noch an«, sagte er.
Und Onkel Ernst raunte mir ins Ohr: »Das erklär ich dir nachher.«
Was er dann beim Verdauungsspaziergang durch den Schlosspark auch tat. Opa sei bei den Nazis zwar nur ein Mitläufer gewesen, aber mitgelaufen sei er seiner Karriere zuliebe ziemlich zügig, wenn nicht gar rasend. Mit der Judenvernichtung und KZs habe er aber wohl nichts zu tun gehabt, habe auch keine Todesurteile unterschrieben. Deshalb sei er dann entnazifiziert worden, habe den sogenannten Persilschein bekommen und weiter als Richter gearbeitet, und zwar über die Pensionsgrenze hinaus, weil es damals nicht genügend Juristen gegeben habe. Das, sagte Onkel Fritz achselzuckend, nenne man Kontinuität.
Am nächsten Morgen verabschiedeten sich Tante Grete und Onkel Ernst wortkarg und kühl und verschwanden wieder hinter dem Eisernen Vorhang. Trotz des Zerwürfnisses schickten wir ihnen noch ein paar Jahre lang Weihnachtspakete. Begegnet bin ich ihnen nie wieder.
Mehr als dreißig Jahre später liest du in der Zeitung, dass ein Landtagsabgeordneter der CDU in Mecklenburg-Vorpommern sein Mandat niederlegen musste. Als ehemaliger SED-Kader und IM der Stasi hatte er jahrelang dasselbe Personal bespitzelt, mit dem er nach der Wende für Marktwirtschaft und Demokratie eintrat. Das war Onkel Ernst.
4
Sommerlager
Fotos sind nicht die Erinnerungen selbst, spannen aber Erinnerungen auf wie Zeltstöcke, über denen der Stoff des Gewesenen hängt.
Das Foto zeigt eine Art Stillleben. Auf einem Felsbrocken liegt eine Brille mit breitem Horngestell. Der rechte Bügel ist verbogen, und das Glas fehlt. Das lässt sich erkennen, weil die Sonne nur auf dem linken Glas reflektiert. Neben dem Fels sieht man den Ansatz einer Lederhose, aus der nackte Oberschenkel herausragen. Im Hintergrund Gebüsch oder Farne. Sommerlager? Die Zelte, deren Stöcke während der nächtlichen Keilerei brechen, die kaputte Brille von – wie hieß er noch gleich? War ein übler Streber. Die Oberschenkel gehören zu – auch dessen Name fehlt. War ein großer, lauter Bursche. Sein Vater war Versicherungsvertreter. Deswegen steht er neben der Brille. Als Zeuge.
Klack.
Findlinge sind während der Eiszeit in riesigen Moränen mitgeschleppt worden, Zentimeter für Zentimeter. Von sehr weit her. Womöglich aus Russland. Und mit solchen Findlingen haben deine Vorfahren Gräber errichtet. Hünengräber. In den Gletschern haben die Findlinge sich unmerklich bewegt wie in einer Superzeitlupe, aber sie haben sich bewegt. Das Foto besitzt nicht den geringsten Drang nach vorn, sondern ist erstarrte Vergangenheit. Es bewahrt das Dargestellte, das Beweisstück Brille auf dem Findling, als läge
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