Klack: Roman (German Edition)
auch Opa im Augenblick noch nicht ganz gewöhnt war.
Allerdings roch es nach Blumenkohl, weil wohl irgendwo im Gebäude gekocht wurde. Oma rümpfte indigniert die Nase, aber Onkel Fritz grinste und meinte, dass sogar Beerdigungsunternehmer gelegentlich etwas essen müssten. Meine Schwester Hanna und ich kicherten, verstummten aber gleich wieder unter Omas strengem Trauerblick und bemühten uns um das, was wir für andächtige Ergriffenheit hielten. Hände falten. Traurig gucken.
Als Hanna und ich an Opas Todestag von der Schule kamen, war nur meine Mutter zu Hause. »Papa hat angerufen«, erklärte sie uns. »Aus dem Krankenhaus. Wegen Opa. Er ist gestorben.«
Ich wusste nicht recht, wie ich darauf reagieren sollte, weil wir schon seit einigen Wochen darauf vorbereitet waren, dass Opa nicht mehr lange leben würde, und einen Todesfall in der Familie hatte ich bislang noch nie erlebt. Ich sah Hanna ratlos an. Vielleicht wusste sie, was man jetzt sagen oder machen musste? Immerhin war sie fast vier Jahre älter als ich und ließ mich das bei jeder Gelegenheit spüren. Weinen? Erschüttert sein? Wie machte man erschüttert sein? Hanna sah aber wie immer nur blasiert an mir vorbei und sagte auch nichts, sondern fummelte an dem Gummiband herum, mit dem sie ihren Pferdeschwanz zusammengebunden hatte.
»Habt ihr nicht gehört?«, sagte meine Mutter ungeduldig, als würde sie von uns etwas Kluges oder Tröstendes erwarten. »Opa ist tot.«
Hanna nickte, zog ihr Taschentuch aus der Rocktasche und schnäuzte sich. Das hätte ich auch gern gemacht, hatte aber kein Taschentuch dabei. Um Mama zu besänftigen oder zu trösten, oder nannte man so etwas nicht sogar kondolieren, fragte ich: »Wann ist er denn gestorben?«
»Um Viertel vor zwölf«, sagte sie hastig, irgendwie erleichtert, reden zu können. »Um fünf vor zwölf hat Papa angerufen. Und wisst ihr, was das Schlimmste war? In dem Moment, in dem ich den Hörer aufgelegt habe, gingen die Sirenen los. Als ob … als ob …« Sie sprach den Satz nicht zu Ende, wahrscheinlich fiel ihr kein passender Vergleich ein.
»Ich hab mich auch über die Sirenen erschrocken«, sagte Hanna, aber das glaubte ich ihr nicht, weil es jeden Monat am gleichen Tag zur gleichen Zeit Probealarm gab. Das stand sogar vorher in der Zeitung und wurde auch im Radio und in der Tagesschau angekündigt, damit man wusste, dass es nur ein Test und die russische Atombombe vorerst noch gar nicht abgeworfen worden war.
Um Punkt zwölf, mitten in der fünften Stunde, hatten die Luftschutzsirenen losgeheult und Mathematiklehrer Söllner bei einer Gleichung mit zwei Unbekannten unterbrochen. Er schaute auf seine Armbanduhr und sagte: »Sehr gut, korrekt. Genau zwölf.«
Und diejenigen von uns, die eine Armbanduhr hatten, schauten ebenfalls aufs Ziffernblatt und stellten fest, dass es tatsächlich stimmte oder dass ihre Uhren vor- oder nachgingen. Im an- und abschwellenden Geheul freuten wir uns zwar über die Störung des Unterrichts, staunten aber auch gemeinsam mit Herrn Söllner über diese tadellose Pünktlichkeit. Im Grunde war alles in bester Ordnung. Alles passte zusammen, meine Uhr, die an meinem Handgelenk tickte, zeigte exakt zwölf, und die Sirenen auf den Dächern begannen genau um zwölf zu heulen, beruhigend in ihrer Zuverlässigkeit, aber auch furchterregend. Wahrscheinlich würde der Dritte Weltkrieg ebenso pünktlich beginnen.
Die Sirenen hatten also Opas Tod über die Stadt geheult. Das war perfekt und unheimlich zugleich. Ich ahnte, dass sich hinter der sauberen Ordnung noch ein anderer Sinn verbarg, der des Todes und der sekundengenauen Vernichtung, jener schaurige Sinn, den die Erwachsenen im Krieg erfahren hatten und dessen Wiederkehr sie als drohenden Weltuntergang fürchteten. Diese andere Ordnung dröhnten die Sirenen in die Welt hinaus, und weil Opa in ihrem Geheul die Welt verlassen hatte, begann ich an seinem Todestag etwas zu verstehen. Zumindest verstand ich den Schrecken, den die Sirenen meiner Mutter eingejagt hatten. Vielleicht begann ich sogar, mich daran zu gewöhnen.
Bei der Trauerandacht war die Friedhofskapelle rappelvoll. In den Geruch trockenen Staubs mischte sich der feuchte, schwere Duft sterbender Schnittblumen, und es war so heiß und stickig, dass sich nicht unterscheiden ließ, was auf den Gesichtern Schweißtropfen und was Tränen waren. Opa war in allen möglichen und unmöglichen Vereinen, Clubs und Gesellschaften Mitglied gewesen, und vor dem mit
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