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Klack: Roman (German Edition)

Klack: Roman (German Edition)

Titel: Klack: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Modick
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Schulpflicht war Schulpflicht. Leider. Andererseits würden wir zwei Tage und eine Nacht sturmfreie Bude haben. Hanna würde vermutlich liebevolles Asyl im Juchhe finden. Und mir würde auch schon etwas einfallen. Was, wusste ich noch nicht, aber sturmfrei war sturmfrei.
    »Erbseneintopf mit Kochmettwürstchen für zwei Tage steht im Kühlschrank«, sagte meine Mutter. »Und dass ihr euch ja anständig benehmt.« Manchmal schien sie über telepathische Fähigkeiten zu verfügen.
    Angesichts dessen, was auf uns zukommen sollte, hatte das Wort »sturmfrei« allerdings einen ironischen, wenn nicht makaberen Beigeschmack. Schon seit Tagen herrschte nämlich Sauwetter. Regen- und Hagelschauer, böiger Nordwestwind. Im Radio wurde stündlich nach den Nachrichten vor der Gefahr einer Sturmflut für die gesamte Nordseeküste gewarnt.
    »Sollten wir nicht lieber mit der Bahn fahren?«, meinte meine Mutter.
    »Mit der Bahn?« Mein Vater winkte ab. »Weil Rudolf bei der Bahn war? Und Kassel liegt ja auch nicht grade an der Nordseeküste, oder?« Er schmunzelte überlegen. »Ich bin schon bei ganz anderen Wetterverhältnissen durchgekommen, wenn ihr wüsstet. Im Kübelwagen vor Kiew bei Eis und Schnee. Der Iwan schoss aus allen Rohren, Stalinorgeln, T-34, und mein Beifahrer hatte die Hosen gestrichen voll, aber der Kübelwagen, VW Typ 82, der Zossen hatte ja eigentlich nur 25 PS, lief allerdings zuverlässig wie ein, wie ein –«
    »Ist ja schon gut«, sagte meine Mutter besänftigend.
    »Wie ein Opel, meine ich«, murmelte mein Vater, obwohl ich mir sicher war, dass er das gar nicht meinte.
    Und dann stiegen meine Eltern und Oma in unseren dunkelgrünen Opel Rekord P 2 1500, Dreiganggetriebe, Lenkradschaltung und halbautomatische, fliehkraftgesteuerte Anfahrkupplung Saxomat, und rauschten mit 55 PS durch Regen und Sturm ab nach Kassel.

    Während Graupelschauer wie nasse Putzlappen an die Fensterscheiben klatschten, grübelte ich weitgehend verständnislos über geometrischen Eigenschaften des Graphen einer Funktion, Nullstellen, Hoch-, Tief-, Wendepunkte und Polstellen. Was sollte man sich eigentlich unter Verhalten im Unendlichen vorstellen? Die für den nächsten Tag drohende Mathearbeit würde wohl zu einem unendlichen Desaster werden. Hanna hätte mir helfen können – in Mathe war sie gut. Und obwohl ich sie ungern um Hilfe bat, weil sie dann immer ein unerträglich besserwisserisches, oberlehrerhaftes Gezicke an den Tag legte, zwang mich meine unendliche Ahnungslosigkeit dazu, demütig an ihre Tür zu klopfen. Keine Antwort. Ich drückte die Klinke nieder. Die Tür war abgeschlossen.
    Ich lauschte. Durch Sturm und Regen hörte ich von unten aus Omas Wohnung Klaviergeklimper. Es klang ziemlich flott. Also spielte nicht Hanna, sondern ihr Zorro, dem es irgendwie gelungen war, sich bei Oma derart einzuschleimen, dass sie ihm erlaubt hatte, das Klavier zu benutzen. Und seitdem war auch in Hanna plötzlich und unerwartet das eingeschlafene Interesse am Klavier wieder erwacht. Wahrscheinlich saß sie jetzt neben ihm auf dem Hocker, vielleicht sogar auf seinem Schoß, und himmelte ihn an, während er aus einer Hand seine Jazzimprovisationen schüttelte – Play Bach nenne sich das, hatte Hanna wichtigtuerisch erklärt – und mit der anderen an Hanna herumfummelte. Für Jazz hatte sie sich vorher nicht die Bohne interessiert. Für Bach erst recht nicht. Neuerdings las sie auch Bücher mit so angeberischen Titeln wie Der Mythos von Sisyphos oder Ist der Existentialismus ein Humanismus? und redete geschwollen daher, dass sie sich in die Welt geworfen fühle und ein Entwurf sei, der sich subjektiv lebe, anstatt nur ein Schaum zu sein oder eine Fäulnis oder ein Blumenkohl. Wie jeder Mensch sei auch sie ein Sein, das nicht das sei, was es sei, sondern das das sei, was es nicht sei. Oder so ähnlich. Zorro Lemartin hatte ihr nicht nur den Kopf verdreht, sondern sie offensichtlich auch um den Verstand gebracht. Sie entwickelte sogar eine Vorliebe für schwarze Klamotten, als sei sie in Dauertrauer, aber natürlich nicht wegen Tante Agnes, sondern wegen ihres In-die-Welt-Geworfenseins. Das Geklimper verstummte. Oder wurde es vom Sturm, der die Jalousien klappern ließ, verschluckt?
    Ich sah aus dem Fenster. Es schüttete jetzt wie aus Eimern. Der Nordwestwind drückte die kahlen Zweige des Birnbaums und der Kastanie in Richtung Schandfleck, als wollten Tentakel ekliger Riesenkraken die ganze Familie Tinotti umschlingen und

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