Klack: Roman (German Edition)
deutete Richtung Radio. »Ist das nicht Mozart?«
Hanna sollte das Geschirr abtrocknen und ich den Abfall nach draußen tragen, aber Hanna sagte, das würde sie schon erledigen, und schnappte sich den Eimer. Merkwürdig. Normalerweise drückte sich Hanna vor dem Gang zur Mülltonne mit dem auch von meiner Mutter entschieden vertretenen Argument, Müll sei Männersache. Vom Küchenfenster beobachtete ich, wie Hanna mit spitzen Fingern die Mülltonne öffnete, erst eine Tüte hineinwarf und darüber dann den Abfalleimer entleerte. Was war in der Tüte? Unterwäsche? Benutzte Fromms?
Als mein Vater sein Verdauungsnickerchen absolvierte, meine Mutter sich über ihr Strickzeug beugte und Hanna sich auf ihr Zimmer verzogen hatte, schnappte ich mir die Agfa Clack und ging zur Mülltonne. Unter Kartoffel- und Eierschalen, Karottenstängeln, Kaffeefiltern und Bohnenhülsen lag die Plastiktüte mit der Aufschrift Modehaus Brenninkmeyer C & A. Das Kaufhaus war erst kürzlich in der Innenstadt eröffnet worden. Enorm war die Rolltreppe, auf der Rudi, Detlef und ich begeistert hoch- und runtergefahren waren wie auf einem kostenlosen Fahrgeschäft des Ostermarkts. In der Tüte lag eine leere Weinflasche. Kröver Nacktarsch. Spritziger Riesling. Jetzt wusste ich, warum Hanna mit ihrem schönen fremden Mann erst einmal in den Keller gestiegen war, bevor er sie im Juchhe flachgelegt hatte.
Ich stellte die Flasche auf die Mülltonne.
Klack!
Auf dem Etikett war ein Kellermeister zu sehen, der einen Jungen übers Knie legt und ihm den nackten Hintern versohlt. Auf dem rückseitigen Etikett gab es dazu eine ziemlich karnevalistische Bildlegende.
Was begeistert Alte loben,
Moselwein, das edle Nass,
wollt die Kröver-Jugend proben,
tief im Keller, Fass an Fass.
Der Küfer sah’s mit Bangen
und wurde grob und barsch,
er haut den kleinen Rangen
den blanken nackten Arsch.
Dies spritzige Tröpfchen, dachte ich mir, dürfte Zorro erst so richtig auf Touren gebracht haben. Hannas nackten Arsch konnte ich mir aber nicht vorstellen.
12
Clarissa
Clarissa! Das einzige Foto von ihr. Clarissa mit ihrem Bruder Enzo. Sie hat sich ein Tuch um den Kopf gebunden und sieht aus wie eine Indianerin. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass du dich so kaum an sie erinnern kannst. Das ist sie nur beinahe, nur so vage, wie du damals von ihr geträumt hast. In diesen Träumen war sie nicht real, wirkte erwachsener, ungenierter und fast ein wenig verrucht – was sie niemals war. Aber wer weiß, vielleicht ist sie später so geworden, wie deine Träume sie sich wünschten?
Wenn du dann erwacht bist, musste die Wirklichkeit erst wieder über das Beinahe des Traums geschoben werden, musstest du dir ihr wahres Aussehen zurechtrücken. Und vor diesem Foto musst du es in der Erinnerung wieder tun. Die Klarheit ihres Lächelns, die naive, zugleich mütterliche Haltung ihrer Hände auf Enzos Schultern, der Platz, den sie nach einigem Sträuben eingenommen hat, der leicht frühreife, selbstbewusste Gesichtsausdruck, aus dem nichts Kleinmädchenhaftes mehr spricht.
Klack!
All das hat dies Foto konserviert, und dennoch fehlt etwas, das zu beschreiben nicht möglich ist. Es fehlte nämlich schon damals. Aus Clarissas Gesicht, das siehst du erst jetzt, spricht Freundlichkeit und Zuneigung, aber keine Liebe. Sie hat dich wohl nur beinahe geliebt, und deshalb erkennst du sie auch nur beinahe wieder, weil du im Moment, als du den Auslöser gedrückt hast, fest davon überzeugt warst, von ihr so geliebt zu werden, wie du sie zu lieben glaubtest.
Tante Agnes war gestorben, und zwar, wie der schwarz geränderte Trauerbrief informierte, plötzlich und unerwartet. Tante Agnes war Omas ältere Schwester, und als Oma die Nachricht erhielt, schüttelte sie ungläubig den Kopf, wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel, weil sich das wohl so gehörte, und sagte, das sei ja nicht zu fassen. Und was jetzt aus dem armen Rudolf werden solle? Der arme Rudolf war Tante Agnes’ Mann, ein pensionierter Verwaltungsbeamter bei der Bahn, der im Ruf stand, pedantisch, linkisch und komplett lebensunpraktisch zu sein. Er kenne, sagte Oma, jeden Fahrplan auswendig, habe aber zwei linke Hände mit lauter Daumen dran und könne sich nicht einmal ein Ei kochen.
Weil Tante Agnes und der unbeholfene Onkel Rudolf in Kassel wohnten, mussten Oma und meine Eltern zur Beerdigung anreisen, im Hotel übernachten und am nächsten Abend zurückkehren. Hanna und ich wurden suspendiert.
Weitere Kostenlose Bücher