Klack: Roman (German Edition)
unserer vereinten Kräfte zusehends. Nach einer Stunde war er so weit gesunken, dass man gar nicht mehr schöpfen musste, sondern das Wasser bereits mit Feudeln aufnehmen konnte.
Dann war es geschafft. Und wir auch. Erschöpft im wahrsten Wortsinn standen wir schwitzend vor den abgesoffenen Kartoffeln und Sonnenblumenkernen, den Regalen voller Dosen mit Linsen, Ravioli, Ölsardinen, Bohnen, Schmalzfleisch und Bundeswehrbrot, Zucker- und Nudelpaketen, Knäckebrotpackungen, Zwieback- und Milchpulvertüten, Schnellkaffee und Teebeuteln, Trinkwasserkanistern, Saftflaschen und den Einmachgläsern mit ihren roten Weckgummis voller Birnen, Stachel- und Johannisbeeren. Wir hatten die Sturmflut überstanden. Die Welt war nicht untergegangen. Und Proviant für den Dritten Weltkrieg hatten wir immer noch mehr als genug.
Hanna hielt ihr zerdrücktes Päckchen Ernte 23 in die Runde. Außer Clarissa griffen alle zu. Wir rauchten. Niemand sagte etwas. Was gab es auch groß zu sagen? Danke vielleicht, danke für die Hilfe? Die Situation kam uns allen wohl so selbstverständlich vor, dass keine Worte gemacht werden mussten. Mich ergriff, benebelt vom Zigarettendunst, ein erhebendes Völkerverständigungspathos. Wir gehörten alle zusammen, Deutsche, Franzosen, Italiener, womöglich sogar unsere Brüder und Schwestern drüben in der Zone, wir hielten zusammen, wenn es darauf ankam. Wir würden auch zusammenhalten, wenn die Sowjets einmarschierten. Und wenn die Bombe fiele, würden wir uns hier im Keller wieder zusammenfinden und gemeinsam den Eichhörnchenvorrat verzehren, bis die Luft wieder rein wäre.
Herr Tinotti verabschiedete sich. Er wollte nachschauen, ob es auch in seiner Eisdiele zu Sturmschäden gekommen war. In einem Monat sollte die Eröffnung sein, und dazu seien wir alle eingeladen. Wir bedankten uns für seine Hilfe, aber er winkte lächelnd ab. Hanna sagte, sie müsse jetzt erst einmal ein heißes Bad nehmen, und Lemartin wollte im Juchhe nach dem Rechten sehen.
»Du hast ja gar kein Foto gemacht«, sagte Hanna und zeigte auf die Kamera, die ich neben Konservendosen ins Regal gelegt hatte.
»Hab ich vergessen«, sagte ich. »War aber sowieso zu dunkel hier unten.«
»Schnurzpiepe«, meinte Hanna und verschwand mit Lemartin über die Kellertreppe nach oben.
Enzo zupfte mich am Ärmel. »Dann mach doch mal ein Foto von uns«, sagte er, »von Clarissa und mir.«
»Bloß nicht«, sagte Clarissa. »Ich sehe ja schrecklich aus.«
»Du bist doch wunderschön«, krakeelte Enzo, bevor ich etwas sagen konnte. Enzo hatte recht.
Und obwohl Clarissa sich noch etwas zierte, nahm ich ihre Hand und führte sie durch die Waschküche vor die Tür. Enzo, der immer noch sein rotes Eimerchen in der Hand hielt, stellte sich vor sie, und sie legte ihm die Hände auf die Schultern.
Ich ging die Stufen hoch und sah durch den Sucher. Enzo lachte. Clarissa lächelte.
Klack!
Es regnete nicht mehr.
13
Die Mauer
Da der Blick vom Küchenfenster nach unten auf die Mauer fällt, sieht sie gar nicht so hoch, nicht so kalt und gnadenlos absurd aus, wie sie tatsächlich war, wirkt aber düster, was wohl an der hereinbrechenden Abenddämmerung liegt. Oma und die drei Arbeiter, die Bierflaschen in den Händen halten und rauchen, schauen überrascht nach oben.
Klack!
Der schnauzbärtige Portugiese hat eine Schirmmütze auf, der Türke hat sich ein Taschentuch um den Kopf gebunden, das so hell wirkt wie Omas silbergraue Haare.
Beim Fotografieren nimmt man vorweg, an was man sich später erinnern will. Aber die Person, die man in zehn, zwanzig oder fünfzig Jahren sein wird, ist einem noch unbekannter als der Mensch, der man vor zehn, zwanzig oder fünfzig Jahren war. Das Gesicht, das einen heute aus dem Spiegel anschaut, lässt das von gestern bereits verschwimmen, zu schweigen von dem Gesicht, in das man vor Jahren schaute. Man fotografiert also für einen Fremden, einen Auftraggeber aus der Zukunft. Er hat zwar denselben Namen, den man immer noch trägt, hat wohl auch noch eine entfernte Ähnlichkeit mit dem, der man einmal war, aber man kennt seine Wünsche oder Interessen nicht. Vielleicht haben gute Fotografen ein Gespür dafür, an was sich Menschen später erinnern wollen.
Aber du warst kein guter Fotograf. Jedenfalls wolltest du keinen Eichhörnchenvorrat zukünftiger Erinnerungen anlegen. Hättest du die Kamera nicht auf dem Jahrmarkt gewonnen, hättest du vielleicht nie eine besessen. Und die meisten Fotos, die du damals
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