Klack: Roman (German Edition)
Material mit. Sie rissen den lädierten Drahtzaun ab und rodeten auf unserer Grenzseite einige Beerenbüsche, als müsste freies Schussfeld geschaffen werden, gruben ein Streifenfundament, gossen es mit Beton aus, setzten sich die von Oma gebrachten Bierflaschen an die Hälse, machten Feierabend und kamen am nächsten Morgen wieder, um die Mauer hochzuziehen.
Oma hatte sich für glasierten Gelbklinker entschieden, weil der manierlich aussehe und mit der Farbe unserer Hausfassade dekorativ harmoniere. So etwas Hässliches wie in Berlin käme gar nicht erst in die Tüte. Was würden da die Nachbarn denken?
Die Männer arbeiteten schnell und präzise. Der deutsche Geselle und der Portugiese mauerten, der Türke mischte Mörtel und machte den Handlanger. Nachdem sie noch zwei Überstunden geschoben hatten, war die Mauer fertig.
Ob sie morgen zum Verfugen kommen sollten?
Oma verzichtete, da sie die Absicht hatte, die Mauer auf der Westseite mit Efeu und Knöterich zu begrünen. Dann werde die Mauer nämlich zum Schmuckstück.
»Und wie’s drüben aussieht«, sagte sie, »ist mir schnurzpiepe.«
»Wenn du die Mauer begrünen willst«, sagte ich, »hättest du doch nicht die teuren Klinker kaufen müssen.«
»Wirst du schon wieder frech?«, schnappte Oma. »Geh mal lieber Bier holen.«
Ich ging in den Keller, holte das Bier, drückte den Männern je eine Flasche in die Hand, und als der Deutsche, der Portugiese und der Türke da müde vor ihrem Gemeinschaftswerk standen, Germania Pils tranken, selbst gedrehte Zigaretten rauchten und der Geselle sich von Oma ausfragen ließ, wie denn so das Betriebsklima bei Siefken sei, lief ich in unsere Wohnung, nahm die Kamera, öffnete das Küchenfenster und rief »Hallo!«.
Sie schauten nach oben.
Klack!
Nachdem Siefkens Leute abgezogen waren, ging ich noch einmal in den Garten und sah mir das blöde Bauwerk aus der Nähe an. Die Mauer war so hoch, dass ich die Oberkante kaum mit ausgestreckten Armen berühren konnte. Aus ihren Parterrefenstern konnte Oma jetzt wohl nur noch das Pappdach des Schandflecks sehen. Ich berührte die kalten, glatten Oberflächen der Klinker und strich mit dem Finger durch die Fugen, aus denen der noch feuchte Mörtel quoll. Es war ein milder Vorfrühlingsabend Anfang April, aber mir war kalt. Während die Dämmerung fiel, färbte sich der Himmel im Westen rot, während es im Osten schon dunkel wurde. Ich ging ganz dicht an die Mauer heran und schaute nach oben. Es sah aus, als hätten die Klinker den Himmel in zwei Teile gespalten.
14
Tinottis Eisdiele
Gemälde, Romane, Filme können Realitäten fingieren, die ihre Urheber nie gesehen haben, aber in der Fotografie lässt sich nicht leugnen, dass die Sache, so unwahrscheinlich sie sein mag, da gewesen ist und Realität und Vergangenheit ineinanderschiebt. Und obwohl du dies Foto nicht selbst gemacht hast, ist das, was es zeigt, unleugbar da gewesen. Das Objekt sieht arrangiert aus wie ein Stillleben, war aber nur das Ergebnis von Enttäuschung und Wut. Und dies Ergebnis war so unwiderlegbar gegenwärtig, dass Rudi Wiechers es fotografiert hat, nachdem du die Eisdiele verlassen und die Kamera, mit der du eigentlich ein Foto von Clarissa und ihrem Vater machen wolltest, auf dem Tisch vergessen hast.
»Das sah einfach irre aus«, sagte Rudi, als er dir die Kamera am nächsten Tag zurückgab, »das Eis im Aschenbecher und die Waffel zerkrümelt wie eine Riesenzigarre.«
Klack.
Oma war Nichtraucherin, griff aber gelegentlich zu, wenn man ihr eine Zigarette anbot, paffte und sog dann mit spitzen Lippen, ohne zu inhalieren. Sie glaubte wohl, dass sich das so gehörte, oder fand es irgendwie elegant. Auf ihrem Couchtisch lag für Gäste auch immer eine silberne Zigarettendose, gefüllt mit der Marke Simon Arzt; vermutlich hielt sie die des Namens wegen für gesund. Eine Zigarette unbemerkt aus der Dose zu stibitzen war unmöglich, weil Oma immer genau wusste, wie viele Simon Ärzte sie hineingelegt hatte, genau so, wie sie auch wusste, wie viele Flaschen von welchem Wein im Keller lagen.
Verglichen mit Omas Gelbklinkerbauwerk hatte die Berliner Mauer ein anderes Kaliber. Je stärker sie ausgebaut und befestigt wurde, desto mehr Menschen flohen aus der Zone oder versuchten es jedenfalls. In der Tagesschau wartete Karl-Heinz Köpcke mit immer schrecklicheren, aber irgendwie auch unheimlich spannenden, meistens böse misslungenen Fluchtversuchen auf: Jugendliche, die mit einem schweren Lkw im
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