Klack: Roman (German Edition)
Tinottis Eisdiele, vormals Krögers Kolonialwarenladen, war in unserer Stadt eingeschlagen wie eine Bombe.
Detlef Harms, Rudi Wiechers, Ralf Eilert und ich standen am Eingang und hielten nach einem freien Tisch Ausschau, möglichst dicht an der Jukebox. In einer Ecke entdeckte ich, halb hinter einem Gummibaum versteckt, Hanna und ihren Franzosen. Der Dachschaden über seinem Bett war inzwischen geflickt, und er war aus Omas Gästezimmer wieder ins Juchhe umgezogen. Jetzt löffelte er Eis aus seinem Becher, sah Hanna dabei tief in die Augen und hielt ihr den Löffel dann vor den Mund, als wollte er ein Baby füttern. Und Hanna war sich nicht zu schade, brav ihr Mündchen aufzusperren und sich kichernd füttern zu lassen. Affig! Ich schämte mich für meine große Schwester und war zugleich eifersüchtig auf ihr Glück. Clarissa hatte mich noch gar nicht gesehen, oder vielleicht hatte sie mich längst gesehen und ignorierte mich nur schnöde, weil sie mich nicht mehr liebte. Aber Herr Tinotti winkte mir fröhlich zu und deutete einladend auf einen soeben frei werdenden Tisch.
Wir setzten uns, studierten die Karte und kalkulierten im Geist unsere finanziellen Möglichkeiten. Mehr als die Piccola Coppa, drei Kugeln mit Schlagsahne für 80 Pfennig, war für keinen von uns drin. Und dann kam Clarissa an unseren Tisch. Sie strahlte. Aber sie strahlte meine drei Freunde genauso an wie mich. Ihr Lächeln war also rein geschäftlich, und das kränkte mich sehr. War ich denn nicht etwas Besonderes für sie?
»Ihr seid eingeladen«, sagte sie, »sucht euch aus, was ihr wollt.«
Ich hatte mich wohl verhört. Ihr seid eingeladen? Wir alle vier? Warum nicht nur ich? Ich hatte doch dabei geholfen, den Laden auf Vordermann zu bringen. Was hatten Detlef, Rudi und Ralf damit zu tun, die sich natürlich gleich skrupellos die Coppa Colossale mit Früchten, Sahne und Schokosoße für fünf Mark bestellten?
»Ich nehme eine Kugel Vanille in der Waffel«, grummelte ich säuerlich.
Die Jungs lachten.
Clarissa sah mich fragend an. »Im Ernst?«
»Ich meine es immer ernst«, sagte ich düster und mannhaft.
Sie zuckte mit der Schulter. »Wie du willst«, sagte sie schnippisch und ging zum Tresen.
»Find ich nobel, dass uns der Spaghetti–, dass wir eingeladen sind«, sagte Detlef.
»Echt knorke«, fand Rudi.
»Der ist Kommunist«, sagte ich giftig.
Rudi lachte. »Spinnst du?«
»Warum spielst du eigentlich die beleidigte Leberwurst?«, erkundigte sich Ralf. »Eine Kugel Vanille? Wo du hier die freie Auswahl hast? Umsonst?«
Detlef grinste. »Vielleicht hat er ja Liebeskummer. Guckt mal.« Er nickte in Richtung Tresen.
Dort stand Clarissa jetzt neben dem jungen Mann, der Eis in Waffeln löffelte, brachte ihren Mund dicht an sein Ohr und flüsterte etwas. Er blickte in Richtung unseres Tischs, nickte, grinste überheblich, berührte mit den Lippen Clarissas Ohr und flüsterte etwas zurück. Sie lachte kokett und gab ihm mit dem Ellbogen einen sanften Stoß gegen die Hüfte.
»Ist ja auch ’ne süße Krabbe«, sagte Rudi. »Da kann man schon mal eifersüchtig werden.«
Mir wurde abwechselnd heiß und kalt, kälter als das Eis und heißer als die Schokosoße auf den gewaltigen Portionen, die Clarissa meinen Freunden vorsetzte. Meinem düsteren Blick wich sie aus und drückte mir die Waffel mit der kümmerlichen Vanillekugel in die Hand, wie man einem störrischen Kind etwas in die Hand drückt, was es nicht mag. Und ich mochte auch nicht. Ich mochte überhaupt nichts mehr, sondern quetschte die Waffel, das Eis zuunterst, in den Aschenbecher, als drückte ich eine Zigarette aus, stand auf und ging ohne ein weiteres Wort und ohne mich noch einmal umzuschauen. Aus der Jukebox sang mir Conny Froboess hinterher: »Zwei kleine Italiener, die träumen von Napoli, von Tina und Marina, die warten schon lang auf sie. Zwei kleine Italiener, die sind so allein –«
Aber nicht so allein wie ich, nicht so hoffnungslos einsam und verlassen! Zu Hause versuchte ich Rocco Granatas Marina zu zerbrechen, aber das Vinyl war zu biegsam. Ich zerschnitt die Scheibe mit einer Schere, riss die Hülle in Fetzen, warf alles in den Papierkorb und mich selbst aufs Bett. Heulte Rotz und Wasser. Fühlte mich sterbenskrank.
»Mund auf«, sagte Frau Dr. König, Spitzname Königin, und drückte mir mit einem Holzspatel die Zunge herunter. »Sag mal ah.«
»Ah!«
»Mh, mh, mh«, sagte sie und betastete meinen geschwollenen Hals. »Typisch abstehendes
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