Klack: Roman (German Edition)
dann nur »ach, lass den Jungen doch« oder »so schlimm wird’s schon nicht sein«, und irgendwann resignierte Oma und tat so, als sehe, höre und wisse sie von nichts. Über ihren Verdacht, Tinottis hätten eine Flasche Wein gestohlen, schüttelte meine Mutter nur den Kopf und sagte »ach, Mutti«, und mein Vater schmunzelte so, als wollte er sagen, die Alte ist verrückt geworden. Ich hatte sogar das Gefühl, dass Oma ahnte, dass der Mauerbau ein teurer Schlag ins Wasser war, aber das konnte sie natürlich nicht zugeben, sondern schwärmte lauthals von der wunderbaren Garage, deren Bau sie nun angeblich von vorneherein geplant haben wollte.
Bei uns zu Hause hatte sich die Lage also entspannt, aber Clarissa gegenüber kam ich keinen Schritt weiter. Zwei- oder dreimal schlug ich ihr vor, mit mir ins Kino zu gehen, aber sie hatte immer eine Ausrede parat. Wenn ich als Gastarbeiter in der Eisdiele rackerte, ließ sie sich überhaupt nicht mehr blicken, und bei meinen Gitarrenstunden sang sie auch nichts mehr vor, sondern verzog sich auf ihr Zimmer oder beschäftigte sich mit Enzo. Und wenn sie gelegentlich vorbeischaute, brachte mich das derart aus dem Konzept, dass ich nicht einmal mehr Do von Re unterscheiden konnte.
»Greifen so«, korrigierte mich Herr Tinotti dann oder auch »zupfen so«, aber ich dachte immer nur daran, wie ich an Clarissa herumgreifen und zupfen könnte.
Sie war so nett wie immer, lächelte mich an wie zuvor, und dennoch hatte ich das Gefühl, dass sich zwischen ihr und mir etwas verändert hatte, etwas, das ich nicht begreifen oder beschreiben konnte. Als ich eines Abends für ein paar Minuten mit ihr allein in der Küche war, nicht wusste, was ich sagen sollte, und sie gelangweilt an mir vorbei auf das Plakat mit der roten Fahne blickte, versuchte ich, von hilfloser Verzweiflung überwältigt, sie zu umarmen und zu küssen.
Sie wehrte sich nicht, sondern sagte nur leise und kalt: »Lass das.«
Ich ging wie in Trance. An der Mauerecke zum Gehweg kam ich wieder zu mir. Sie liebt mich nicht mehr, dachte ich, verdammte Kommunistin, und verspürte plötzlich die unbändige Lust, meine Gitarre gegen die Mauer zu schlagen, bis die Gitarre zertrümmert und die Scheißmauer zusammengebrochen sein würde. Sie liebt mich nicht mehr. Die Worte bohrten sich tiefer und tiefer in meinen Kopf, ein Ohrwurm der Qual. Am nächsten Morgen weckte er mich mit leicht verändertem Text: Sie hat mich nie geliebt.
Der Tresen bestand aus abwechselnd rot, grün und weiß getönten Glasbausteinen, der Fußboden war mit Marmorbruch gefliest. Die Resopalplatten der Nierentischchen zeigten quietschbuntes Mosaikdesign. An den Wänden leuchteten Tütenlampen mit pastellfarbenen Schirmchen, und in den Ecken standen mehretagige, wendeltreppenartig verdrehte Blumenhocker, auf denen sich immergrüne Pflanzen ringelten und wie grünes Bakelit glänzende Gummibäume thronten. Die Wände waren mit Deco-Fix beklebt, und an einer Stelle, an der die Klebebahnen ungenau aneinanderstießen, fuhr eine abgeschnittene Gondel gegen das Kolosseum, und aus dem Ausschnitt einer vollbusigen, glutäugigen Italienerin ragte eine Mandoline. Hinter der Tresenplatte aus Marmor waren die Eisbehälter aufgereiht. Rot leuchtete Erdbeer, cremig-weiß Vanille, grün Pistazie, und es gab noch viel mehr Sorten. Am Rand des Tresens prangte eine Kaffeemaschine aus rot gespritztem Metall und blitzenden Verchromungen, die noch opulenter wirkte als die Heckpartie von Siefkens Barockengel. Neben dem Durchgang zur Toilette flimmerte und flackerte die Wurlitzer Jukebox, vor der ein paar Entenschwanzträger herumlungerten. Ray Charles sang I Can’t Stop Lovin You, und damit sprach er mir aus der Seele.
Clarissa trug ein schlichtes schwarzes Kleid mit einer blütenweißen Schürze um die Hüften, schwebte, ein strahlendes Lächeln im Gesicht, engelsgleich zwischen Tresen und den voll besetzten Tischen hin und her, balancierte auf einem Silbertablett gewaltige Eisbecher, die ihr Vater hinterm Tresen komponierte.
Ein junger Mann, den ich noch nie gesehen hatte, war fürs Eis zum Mitnehmen zuständig. Er fuhr routiniert mit dem Eislöffel durch die verschiedenen Behälter, 20 Pfennig pro Kugel, und händigte die Waffeln den Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen aus, die in langer, bis auf die Straße reichender Schlange anstanden, und zwar so geduldig, als hätten sie schon ihr Leben lang auf die Eröffnung einer italienischen Eisdiele gewartet. Kurz,
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