Klack: Roman (German Edition)
Drahtverhau oder mit einem gepanzerten Fahrzeug im Kugelhagel stecken blieben; unter der Mauer wurden Tunnel gegraben; in präparierten Autos wurden Fluchtwillige versteckt und ausgeschleust; ausländische Diplomaten schmuggelten in ihren Fahrzeugen, die dank ihrer Immunität unkontrolliert blieben, Menschen von drüben nach hüben; eine ganze Familie floh in selbst geschneiderten sowjetischen Uniformen mit einem zum Militärfahrzeug umgebastelten sowjetischen Auto; andere versuchten es schwimmend, mit Paddel- oder Segelbooten. Fluchthilfe entwickelte sich zu einem florierenden Geschäft, bei dem gegen Zahlung hoher Beträge, selbstverständlich in echter und harter Westwährung, Fluchtwillige aus der DDR herausgebracht wurden. Um selber von diesem Geschäft zu profitieren, hatten Rudi Wiechers und ich die Idee, eine Fluchthilfe-GmbH zu gründen, aber uns fehlte die Phantasie für noch ungewöhnlichere Fluchtwege als die real existierenden, und so wurde nichts aus dem genialen Plan.
Gegen den Berliner Beton war Omas akkurat gemauerte Klinkerwand jedenfalls harmlos, wenn auch grenzenlos peinlich. Sie erstreckte sich ja nur vom Birnbaum bis zur Kastanie, sodass man den Schandfleck nicht mehr durch den Garten erreichen konnte, sondern den kleinen Umweg über den Gehweg nehmen musste, den Oma natürlich nicht hatte vermauern können, obwohl sie das vermutlich gern getan hätte.
Durch Klatsch, Tratsch und diverse spitze Bemerkungen kam Oma nun aber zu Ohren, dass man in der Nachbarschaft den Mauerbau keineswegs als notwendige Abwehrmaßnahme gegen wachsende Überfremdung würdigte, sondern als ästhetischen Stilbruch, als Marotte, wenn nicht gar Verrücktheit empfand. Schließlich gab es in unserem Viertel keine Mauern zwischen den Gärten, sondern nur gepflegte Hecken und den einen oder anderen hübschen Hexen- oder Jägerzaun. In ihrem Bridgeclub musste Oma allerlei Sticheleien einstecken. Ob sie auch einen Checkpoint plane? Ob es schon Fluchtversuche gegeben habe? Und so weiter.
Das wurmte Oma bis aufs Mark, aber die Mauer wieder abzureißen kam für sie natürlich nicht in die Tüte. Die rettende Idee stammte von meinem Vater. Er habe schon seit geraumer Zeit mit dem Gedanken gespielt, eine Garage zu mieten oder zu bauen. Für den Autolack seien Wind und Wetter bekanntlich Gift, das leuchte jedem ein, ohne dass er lang und breit vom russischen Winter erzählen müsse. Und da sich inzwischen immer mehr Nachbarn Autos zugelegt hätten, müsse er manchmal schon nach einem Parkplatz suchen, wenn unter seiner angestammten Straßenlaterne ein anderer Wagen geparkt sei. Baue man die Garage direkt ans Ende der Mauer, sei dort praktischerweise bereits eine Seitenwand vorhanden, und wenn man dann die Reste der Büsche entferne und den Grünstreifen mit Waschbetonplatten als Einfahrt pflastere, werde die ganze Konstruktion den Eindruck vermitteln, von Anfang an einzig zu diesem Zweck geplant worden zu sein.
Oma tat so, als müsse sie sich die Sache erst noch einmal durch den Kopf gehen lassen, lächelte aber still vergnügt in sich hinein. Manchmal war ihr Schwiegersohn gar nicht so dumm. Firma Siefken, auf Jahre hinaus ausgebucht, übernahm die Arbeiten nur deshalb, weil Oma Herrn Siefken ein weiteres Mal nachdrücklich an das gnädige Urteil ihres verstorbenen Gatten erinnerte, das Herrn Siefken damals vor einer hohen Geldstrafe, womöglich gar vorm Gefängnis, bewahrt hatte.
Schon beim zweiten oder dritten Einparken fuhr sich mein Vater eine Schramme in den linken Kotflügel seines Rekords, war aber über die neue Garage so glücklich, als habe nicht das Auto, sondern er selbst endlich ein Zuhause gefunden.
Ich half Herrn Tinotti noch einige Male in der Eisdiele, die im Mai eröffnet werden sollte, und ließ mich mit weiteren Gitarrengriffen und Zupftechniken entlohnen. Meine Eltern hatte die Hilfsbereitschaft der Tinottis während der Sturmflut offenbar beeindruckt und so milde gestimmt, dass sie mich fast widerstandslos nach nebenan gehen ließen, zumal sie somit das Schulgeld für die Jugendmusikschule sparten. Oma unternahm noch ein paar Versuche, bei meiner Mutter dagegen zu intervenieren, dass ich beim diebischen Zigeunerpack und dem lasziven Flittchen verkehrte und dort verdorben werde und rettungslos verlottern müsste.
»Denk doch nur an den Schlüpfer«, sagte sie, und das klang so bedrohlich, als wollte sie sagen: Denk doch nur an die Atombombe.
Aber das taten wir sowieso jeden Tag, und meine Mutter sagte
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