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Klagelied auf einen Dichter

Klagelied auf einen Dichter

Titel: Klagelied auf einen Dichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Innes
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nutzen wüßten. Doch ob es nun Christine
oder Gamleys Jungen waren, die Isa im Gutshaus gehalten hatten: daß es niemand
anderes als Guthrie persönlich war, der sie am Ende von dort vertrieb, das
glaubte ihr jeder sofort.
    Die meiste Zeit bekam Isa den Gutsherrn kaum zu Gesicht. Fast den
ganzen Tag verbrachte er in seiner Studierstube hoch oben im großen Turm, und
wenn er einmal ausging, durch die Wälder streifte oder bisweilen im Drochet
fischte, dann nahm er die lange Turmtreppe, die an seinen Privatgemächern
vorbei zu einer kleinen Hintertür fernab vom Rest des Hauses führte, einer Tür,
zu der er den Schlüssel stets in der Tasche trug. Isa sah ihn nur bei den
Mahlzeiten, und das war ihr auch genug. Nur einmal die Woche bekam sie Zugang
zu seinem Schlafzimmer, um es herzurichten, und dann konnte sie hören, wie er
im Raum über ihr auf- und abging und Verse murmelte, eigene oder fremde. Denn
der Leser muß wissen, daß Guthrie nicht nur Gelehrter war, sondern auch Poet.
Vor Jahren hatte er einmal einen Band mit Gedichten herausgegeben, ein schmales
Büchlein in gelbem und schwarzem Umschlag, das all jene mit Abscheu aufnahmen,
für die es keine Frage war, daß die Gedichte eines schottischen Landedelmanns
zu klingen hatten wie jene von Robert Burns. Ich war damals noch ein junger
Mann, wollte mich nicht damit abfinden, daß ein Schuster bestenfalls ein paar
Klassiker kennen mußte, um seinem Handwerk nachzugehen, und einmal die Woche
marschierte ich nach Dunwinnie, um zu sehen, was die Zeitungen über die
neuesten Bücher schrieben – zehn Meilen hin und zehn zurück, und das war lange
bevor es den Samstagsbus gab. Und bis heute ist mir im Gedächtnis geblieben,
daß einer der Artikel in einer Londoner Zeitung endete: Mr.   Guthrie spielt mit dem Abgrund . Ich fand, daß spielen das falsche Wort war: der Schreiber steckte ihn einfach zu den vielen damaligen
Dichtern, die mit dem Untergang nur kokettierten. Guthrie, davon muß ich vor so
vielen Jahren überzeugt gewesen sein, spielte nicht mit dem Abgrund, sondern
war tatsächlich eine verdammte Seele. So romantisch war ich damals wohl.
    Doch zurück zu Isa Murdoch. Ein paar Blicke beim Essen, das war
alles, was sie von ihrem Herrn zu sehen bekam, und die gemurmelten Verse waren
alles, was sie hörte, bis zu jenem Tag, kurz nachdem die Gamleys fortgezogen
waren. An jenem Tag fegte sie den Korridor vor Christines Zimmer – dem
Schulzimmer, wie es nach wie vor hieß –, und als sie sich umwandte, erblickte
sie Guthrie, wie er hinter ihr stand und sie finster ansah. Ihr seien fast die
Sinne geschwunden, erzählte sie, denn sie war ihm noch nie zuvor allein im Haus
begegnet, und noch nie hatte sie seinem schrecklichen Blick standhalten müssen – Guthrie hatte den Blick sonst, wie gesagt, immer auf einen Punkt in der Ferne
gerichtet. Sie sah das Gold in seinen Augen glitzern, erzählte sie, dort in dem
düsteren, verstaubten Korridor, und als seine Lippen sich öffneten – in all
ihren Tagen auf Erchany hatte Guthrie nicht ein einziges Wort zu ihr gesagt –,
da erwartete sie einen Fluch zu hören, der ihr Verderben sein würde.
    Doch Guthrie sagte nur mit ruhiger Stimme: »Richtet das Haus wieder
her.«

V.
    Ein seltsamer Tag war das, an dem Christine Mathers und Isa und
Hardcastles Frau die verschlossenen Türen von Castle Erchany öffneten. Sie
stemmten sich gegen die mächtigen Fensterläden in ihren rostigen Scharnieren
und ließen das Licht der fahlen Herbstsonne herein, die sich ihren Weg durch
Schmutz und Verfall von vierzig Jahren bahnte, durch Staub, Schimmel, Fäulnis
und Spinnweben so dicht wie der Bart eines Weihnachtsmanns. Isa schloß die zwei
Flügel einer Tür auf, durch die sie noch nie einen Blick geworfen hatte, und
fand sich in einem Billardzimmer, der große Tisch mit einem Tuch abgedeckt, so
daß er wirkte wie ein Ungeheuer unter seinem Leichentuch oder eine Bahre im
Leichenschauhaus für Riesen. Sie ging hin und befühlte ihn, neugierig und ein
wenig ängstlich, denn sie hatte dergleichen noch nie gesehen. Als sie ihn an
der Ecke anfaßte, gab eine der zergangenen Taschen nach, und eine Reihe von
Bällen fiel mit großem Getöse auf den Fußboden und rollte in die Dunkelheit
davon. Da habe ihr die Furcht wirklich die Kehle zugeschnürt, erzählte Isa; es
war, als sei das große, stumme, geheimnisvolle Ding zum Leben erwacht, als sie
es berührte. Sie rannte hinaus, rief nach Miss Christine, und im nächsten
Augenblick wäre sie

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