Klagelied auf einen Dichter
zu
Christine hinüber, lief fast, damit sie ihren Weg noch kreuzen konnte, und
gleich darauf blickte sie ihr ins Gesicht und rief: »Miss Mathers, Miss
Mathers, ist das nicht schrecklich, bei solchem Wetter hier draußen?«
Diesmal konnte die Lehrerin kaum glauben, daß das Mädchen sie wieder
nicht gehört hatte – doch ob nun absichtlich oder nicht, sie ging unbeirrt
weiter und beachtete sie gar nicht. Die Lehrerin blieb verblüfft stehen und
wußte nicht, ob sie nun gekränkt oder besorgt sein sollte, und sie fragte sich,
ob Christine schlafwandelte oder ob schlicht und einfach das entsetzliche Leben
auf Erchany und der Gutsherr sie um den Verstand gebracht hatten. Und bei
diesem Gedanken schlug ihr das Herz bis zum Halse, denn nun, wo sie an Guthrie
dachte, da sah sie – als hätte ein Blitzschlag die dahinrasenden Unwetterwolken
über ihr zerspalten – den Guthrie in Christine. Das hatte ja immer alle
Lästermäuler gestopft – daß das Mädchen rein gar nichts von Guthrie an sich hatte –, und hier kam sie nun daher, als wolle sie den Ben Cailie erklimmen, sah
weder nach links noch rechts, sondern hatte den Blick auf einen Punkt vor sich
in der Ferne geheftet, die Wangen leichenblaß mit flammendroten Flecken darauf,
und die Lippen bewegten sich, als ob sie bete oder etwas rezitiere. Genau so,
wie ein Besessener, ging Guthrie an einem vorüber; wer sich traute, mochte ihn
ansprechen, doch eine Antwort bekam er nie.
Miss Strachans plötzliche Erkenntnis, mag der vernünftige Leser
denken, würde vor Gericht wohl wenig gelten, denn es war schließlich nur etwas,
was ihr in einem Augenblick der Erregung durch den Kopf ging, und das durch
einen Kopf, der randvoll mit Klatsch und Tratsch war. Aber nun, wo ihr das
aufgegangen war, wußte sie auch, daß es keinen Zweck hatte, Christine
aufzuhalten; sie stand da und sah ihr nach, bis sie auf ihrem gespenstischen
Weg im Wirbel der Wassertropfen verschwunden war. Und man kann sich vorstellen,
daß auch die Lehrerin sich recht verloren vorkam, denn der Wind blies immer
heftiger, es würde nicht mehr lange dauern, bis es dunkel war, und allein der
Schneeregen reichte aus, die athletischen Ideale einer ganzen Olympiade unter
sich zu begraben. Der Bauernhof, wo Mistress Gamley ihr früher eine Tasse Tee
gebraut hätte, war verlassen, das wußte sie; und nun, wo Christine auf ihre
irrwitzige Wanderung gegangen war, da war niemand mehr im Herrenhaus außer
Guthrie und Tammas und dem widerlichen Hardcastle mit seiner vertrottelten
alten Frau. Und so verlockend ihr das Geheimnis des verwunschenen alten Hauses
von ihrem gemütlichen Zimmer im Schulhaus von Kinkeig aus auch vorgekommen sein
mochte, merkte sie doch nun, wie ihr aller Appetit darauf vergangen war: wir
können sie uns vorstellen, wie sie dort im Schneematsch stand und aus ganzem
Herzen ihre Wanderlust verfluchte. Aber davon würde sie nicht einmal eine
Mauer, die ihr Schutz gegeben hätte, finden, geschweige denn ein Häufchen
trockenes Stroh. Wie unser Zeitungshändler gesagt hätte, hatte sie die Wahl
zwischen drei Alternativen: sie konnte bleiben, wo sie war, sie konnte
weiterfahren und sich den Hals brechen, wie es Christine gewißlich auf ihrer
Wanderung geschehen würde, oder sie konnte sich nach Erchany durchschlagen und
auf die Gastfreundschaft von Ranald Guthrie hoffen. Und nun fiel es der
gehetzten Seele wieder ein, was für ein entsetzlicher Ort das Herrenhaus war
und wie schlimm es dem armen Kind Isa Murdoch dort ergangen war, so daß sie
sich fast entschieden hätte, weiterzufahren und zu sehen, daß sie hinüber ins
nächste Tal kam. Aber dann gewann doch die Vernunft die Oberhand, sie setzte
sich wieder auf ihr Rad, um sich den Altweiberschrecken von Guthrie und seinem
bösen Blick und dem Schwert und der Galerie zu stellen.
Dieser Vorsatz hielt, bis sie am Bauernhof anlangte; dann fiel ihr
der große Heuboden wieder ein, den die Gamleys dort gehabt hatten – Geordie und
Alice hatten dort oben geschlafen, und was für einen Spaß sie da gehabt hatten,
die beiden Rabauken, mit der Außentreppe, die vom Hof hinaufführte.
Wahrscheinlich hatten die Gamleys das Stroh, auf dem die beiden schliefen,
dagelassen; wenn sie da hinaufkam, hätte sie es gemütlich bis zum Morgen, denn
sie hatte zwei oder drei Schokoladenriegel zur Verpflegung dabei, so wie die
Wanderer, all jene, die auf die Suche nach dem wahren Schottland gehen, sie ja
immer bei sich haben. So fuhr sie denn auf den Hof, schob
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