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Klagelied auf einen Dichter

Klagelied auf einen Dichter

Titel: Klagelied auf einen Dichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Innes
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auf einen Feldweg das Tal des Mervie hinab
führt. Es muß eine anstrengende Fahrt sein und selbst an guten Tagen nicht ganz
ungefährlich; wenn man sie fragt, erzählt sie einem, daß sie begeisterte
Sportlerin ist, und tatsächlich kann keiner sagen, daß sie nicht zäh und
drahtig wäre. Aber daß es nun die Wanderlust gewesen wäre, die sie im Tauwetter
nach dem ersten Schnee des Winters Glen Erchany hinaufgeführt hätte, das war
doch schwer zu glauben, zumal es ja gerade die Zeit war, als all die Gerüchte
um die Vorfälle im Herrenhaus ihre Runde machten. Manche meinten, es müsse wohl
die Geschichte von Tammas gewesen sein, die sie dorthin gelockt habe, denn
eine, die keine großen Aussichten habe, daß ein Bursche, der bei Verstand ist,
sie nimmt, müsse doch bei der Nachricht von den neuesten Regungen des
Schwachkopfes die Ohren gespitzt haben. Aber wir brauchen auf die Motive, die
sie antrieben, nicht näher einzugehen; hier soll es genügen, daß sie am letzten
Novemberwochenende das Tal hinauffuhr.
    Der Drochet war ein reißender Wildbach geworden, nun wo der Schnee
des Ben Cailie schmolz, die Tannen standen starr, und das Wasser tropfte ihnen
von den stillen Zweigen; nur wenn ein Windhauch kam, schüttelten sie sich und
schickten einen Schauer auf den Pfad, den die Lehrerin sich auf ihrem Drahtesel
entlangquälte, im Schneematsch den Berg hinauf. Erst als sie schon am oberen
Ende des Tales angekommen war, am Fuße des Ben Cailie, sah sie das Unwetter,
das sich ostwärts über dem See zusammenbraute, die ersten Anzeichen jenes
großen Sturms, der mit der Schneeschmelze kam. Dunkel und grimmig und
geheimnisvoll lag der See da, eingerahmt von schwarzen, vom Schnee
niedergedrückten Tannen; dann begann sich weit hinten im Osten die Wasseroberfläche
zu regen, der ganze See bebte, bald sprangen auf den ersten Wellen Schaumkronen
auf, und über die wogende, schäumende Wasserfläche huschte und flackerte das
stürmische Spiel von Licht und Schatten, als der Sturm, der durch das schmale
Tal wie durch einen großen Kamin gefegt kam, die tief herabhängenden Zweige der
Bäume erfaßte und sie schüttelte, daß die eisigen Tropfen in den immer
schwärzer werdenden Himmel flogen, wo die Gewitterwolken sich nun zu einem
großen Triumphzug rund um den Ben Cailie formierten.
    Unserer Lehrerin mußte angst und bange werden, wenn sie tatsächlich
an jenem Abend über ihre Bergpfade noch nach Kildoon wollte. Wenn sie es
allerdings eher auf Erchany abgesehen hatte, kam ihr der Sturm gerade recht;
meilenweit im Umkreis gab es keine andere menschliche Behausung außer dem
Herrenhaus und dem nun verlassenen Bauernhof, der unterhalb des Weges zwischen
den Lärchen verborgen lag. Und als der Sturm ernstlich begann, mit einer
solchen Macht, daß es ihr fast die Kleider vom Leibe blies, da schlug sie nicht
ihren üblichen Weg ein, sondern fuhr weiter, und bald darauf hielt sie auf die
Gebäude des Bauernhofes von Erchany zu.
    Gut die Hälfte der Zufahrt hatte sie hinter sich und konnte schon
durch die Gischt des Sturms die geschlossenen Fensterläden und den stillen
Viehpferch erkennen, verlassen an diesem gottverlassenen Ort, als hinter einer
Kuppe weiß und mit raschen Bewegungen wie ein aufgestörtes Gespenst die
schlanke Gestalt eines Mädchens auftauchte und auf sie zukam. Im nächsten
Augenblick erkannte die Lehrerin, daß es Christine war – es konnte ja kaum
jemand anderes sein in dieser Einöde –, und sie glaubte, Christine habe sie von
unten vom Bauernhof gesehen und eile ihr im Sturm zu Hilfe. Also winkte sie ihr
zu und rief etwas, was ihr der Wind sogleich von den Lippen riß, und trat in
die Pedale, so fest sie nur konnte. Doch schon bald mußte sie zu ihrem
Schrecken erkennen, daß Christine sie überhaupt nicht gesehen hatte; das
Mädchen stieg nun den Hügel hinauf, schräg von ihr fort mit ihren langen,
schlanken Beinen, und mit nichts zum Schutz gegen das Unwetter als einem dünnen
Wollkleid, das schon ganz durchnäßt war und sich ihr bei jedem Schritt um die
Glieder legte. Große Sorgen habe sie sich um sie gemacht, erklärte Miss
Strachan; vielleicht machte sie sich auch ein wenig Sorgen um sich selbst, denn
so wie das Unwetter sich anließ, hatte sie eine Zuflucht auf Erchany bitter
nötig, und nun wo die Gamleys fort waren, war Christine Mathers die einzige,
bei der sie sicher sein konnte, daß sie ihr nicht die Tür vor der Nase
zuschlug. Jedenfalls ließ sie ihr Fahrrad am Wegesrand liegen und ging

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