Klagelied auf einen Dichter
nach. Er muß unverzüglich zur Tür heraus- und die Außentreppe
heraufgekommen sein, denn bevor die Lehrerin noch Zeit hatte, sich Vorwürfe zu
machen, wie dumm sie sich angestellt hatte, stand er oben in der Tür und
funkelte sie an. »Madam«, sagte er, »höre ich recht, daß Sie Hilfe brauchen?«
Es tröstete Miss Strachan gar nicht, daß ihr nun wieder der
weltgewandte, englische Guthrie gegenüberstand, ganz Höflichkeit und schwarze
Ironie; ihr wäre der Guthrie lieber gewesen, mit dem Lindsay gesprochen hatte,
der Gutsherr, der mehr zu seinem Schottischen stand, als die Herren im letzten
Jahrhundert für fein gehalten haben. Mit einem leichten Schniefen – darf man
sich vorstellen – antwortete sie: »Oh, Mr. Guthrie, Sir, ich bin die
Schulmeisterin aus Kinkeig und ich war mit meinem Fahrrad unterwegs, als das
Unwetter kam und –«
»Es freut mich«, sagte Guthrie – sie sah die Umrisse seiner Gestalt
in der Tür und sie konnte sehen, wie er sich leicht verneigte –, »es freut
mich, daß Sie hier auf dem Hof Zuflucht gefunden haben. Doch Sie riefen um
Hilfe, wenn ich es recht vernahm? Was ängstigt Sie? Unsere Gastfreundschaft ist
nicht, wie sie sein sollte?«
Sie spürte die Wut in seinen Augen, obwohl sie ja nur den schwarzen
Schatten sah, und die Schärfe, mit der er diese freundlichen Worte sprach,
brachte sie auch noch um das letzte Quentchen Mut. »Es war eine Ratte, Mr. Guthrie«, rief sie; »sie huschte vorbei und jagte mir einen Schrecken ein.«
»Ah ja«, erwiderte Guthrie. »Die Ratten sind lästig in dieser
Gegend. Ich habe selbst gerade mit einer zu schaffen gehabt.«
Bei diesen entsetzlichen Worten stockte der Lehrerin das Blut in den
Adern; ihr war so elend zumute – hätte sie sich getraut, so hätte sie sich
einfach hingesetzt und geweint. Und sie muß noch einmal geschnieft haben, denn
als nächstes, berichtet sie, sagte der Herr: »Sie sind erregt; lassen Sie uns
ein freundlicheres Asyl für Sie suchen.« Bei dem Wort »Asyl« dachte sie in
ihren wirren Gedanken einen Moment lang, er wolle sie dem Schwachkopf
ausliefern, und sie wäre an ihm vorübergestürmt, hinaus in Unwetter und Nacht,
hätte sie nur gekonnt. Doch der Herr näherte sich ihr mit seiner spöttischen
Höflichkeit wie Sir Charles Grandison in Richardsons prachtvollem Roman, nahm
sie am Arm und führte sie vom Dachboden hinunter, als geleite er sie aus einem
Ballsaal. Als sie unten anlangten, wartete ein neuer Schock auf sie, denn auch
wenn es nun Abend geworden war, konnte sie sein Gesicht noch sehen, bleich wie
das eines Gespensts, nur mit einem großen roten Fleck vom Schlag mit der
flachen Hand. Während des ganzen Weges rund um den Seitenarm des Sees und hin
zum Herrenhaus, während der Gutsherr ihr den Arm bot, als sei sie die Herzogin
von Buccleuch, und mit der anderen Hand ihr Fahrrad schob, hallten ihr in den
Ohren nur immer die letzten Worte, die er zu dem jungen Lindsay gesprochen
hatte: »Das werden Sie büßen.« Am Haus angekommen, war er sein Spiel plötzlich
leid, ließ die alte Hardcastle kommen und sagte: »Geben Sie der jungen Frau ein
Lager für die Nacht.« Mit einer förmlichen Verbeugung verabschiedete er sich
und ging seiner Wege, und unsere Lehrerin war vermutlich von ihrer jähen
Degradierung von der »Madam« zur »jungen Frau« schwerer getroffen als von allem
anderen, was ihr an diesem schrecklichen Tag widerfahren war – obwohl ja »jung«
ein Kompliment war, für das sie hätte dankbar sein können; man sollte
allerdings nicht vergessen, daß Guthrie sie ja nicht bei Licht gesehen hatte.
Und auch Miss Strachan sah nichts mehr von Guthrie außer einem
kurzen Blick am folgenden Morgen. Beim ersten Sonnenstrahl war sie auf den
Beinen, denn bei all den Ratten hatte sie die ganze Nacht kein Auge zugetan,
und was sie an Abendbrot bekommen hatte, war so mager gewesen, daß sie alles,
was ihr die Vierbeiner an Schokolade nicht vom Nachttisch holten, aufgezehrt
hatte, lange bevor sie aufbrechen konnte, ohne daß es unhöflich gewirkt hätte.
Sie konnte es gar nicht abwarten, von dort fortzukommen, der Sturm hatte
nachgelassen, und sie beschloß, daß es das beste war, zu Fuß nach Kinkeig
zurückzugehen und das Rad zu schieben – zu fahren würde, so wie der Weg
aussehen mußte, gewiß unmöglich sein. So bettelte sie der alten Hexe, die
Hardcastle zur Frau hatte, noch ein Stück Brot mit Rübenhonig ab, machte
freudig winke-winke, und schon im nächsten Augenblick war sie
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