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Klagelied auf einen Dichter

Klagelied auf einen Dichter

Titel: Klagelied auf einen Dichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Innes
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besah mir auch den Schnee auf der Brustwehr. Ich hatte den Eindruck, daß rege
Betriebsamkeit hinter diesen windumtosten Zinnen geherrscht haben mußte, doch die
Spuren waren bereits allesamt halb verweht, und es wäre nur verschwendete Zeit gewesen,
hätte ich sie mit dem Auge des Amateurdetektivs untersuchen wollen. Ich hielt lediglich
fest, daß vor kurzem – etwa während der letzten halben Stunde – geradezu ein Gedränge
an diesem gefährlichen Ort geherrscht haben mußte; dann wandte ich mich der Falltür
zu. Und hier war der Schnee so offensichtlich beiseite gerutscht, daß es ein eindeutiger
Beweis war; diese Falltür hatte vor kurzem jemand geöffnet. Ich zog an dem kräftigen
Eisenring und stellte fest, daß nun von unten ein Riegel vorgeschoben war; ich suchte
ein wenig und fand, was ich vermutet hatte: einen zweiten Riegel, mit dem sie sich
von oben versperren ließ. Er ließ sich ohne weiteres bewegen; der erste Eingang
zum Turmzimmer war damit gesichert.
    Ich kehrte so rasch, wie es ohne Gefahr möglich war, nach drinnen
zurück und hielt nur noch einmal inne, um nach dem Wetter zu sehen. Der Mond
lag hinter einem Wolkenschleier, doch hie und da sah man einen Stern oder ein
ganzes Sternbild: noch während ich hinaufsah, flammte Orion auf wie eine Reihe
von Straßenlampen. Am Morgen würde, prophezeite ich in Gedanken, die Sonne über
die weiten Schneeflächen scheinen, und zumindest vorerst waren die letzten Flocken
gefallen.
    Ich kehrte ins Zimmer zurück, wo Sybil und Hardcastle noch genauso
dastanden, wie ich sie verlassen hatte. »Jetzt gehen wir nach unten«, ordnete
ich an. Wir polterten hinaus auf den engen Treppenabsatz, und ich verschloß die
Tür und steckte den Schlüssel in die Tasche. Studierstube, Schlafkammer und
Brustwehr waren für niemanden mehr zugänglich. Hardcastle murmelte etwas
Unverständliches – vielleicht ein Versuch, seine Rechte als Aufseher auf
Erchany geltend zu machen –, aber ich war bereits vorausgeeilt und sprang
beinahe die Treppenstufen hinunter. Unten angelangt, wies Hardcastle auf eine
weitere, kleinere Treppe. Ich verschloß auch jene Tür noch, die zum Treppenhaus
des Turms führte, und dann folgten wir Hardcastles Treppe in eine Art Keller.
Der gestürzte Guthrie mußte mitten im Burggraben liegen. Wir kamen an eine
kleine Tür, und hier sprach Sybil zum ersten Mal seit dem »Er ist vom Turm
gestürzt« wieder ein Wort. »Ich komme mit«, sagte sie. Und zog mit einer so
entschiedenen Geste ihre Taschenlampe hervor und schaltete sie ein, daß ich
wußte: jede Gegenwehr war zwecklos.
    Im Graben lag der Schnee so tief und so pulverfein, daß ich mir
einen Moment lang wider alle Vernunft vorstellte, Guthrie könne doch überlebt
haben. Als wir um die Ecke des Turms kamen, versanken wir bis zu den Knien im
Schnee; Hardcastles Laterne tauchte uns in einen schwankenden Lichtschein, und
Sybils Taschenlampe erforschte den Graben vor uns. Einen Augenblick noch, und
wir sahen vor uns den schwarzen Fleck im Schnee, den wir gesucht hatten. Wir
eilten zu ihm hin. Mir schlug das Herz bis zum Halse. Der dunkle Fleck hatte
sich bewegt.
    Ein grauenhafter Schrei erscholl – aus Hardcastles Kehle. Ich
blickte ihn an; der Schweiß lief ihm in der Eiseskälte über das Gesicht; er
hatte vollkommen die Nerven verloren. Ich blickte wieder nach vorn, und nun sah
ich, daß das, was sich bewegt hatte, ein zweiter Mann war, der sich über den
Gestürzten gebeugt hatte. Die Gestalt richtete sich auf, als wir herankamen.
Eine Stimme sagte: »Er ist tot.«
    Als ich davon schrieb, wie entsetzlich Guthries Ende war, da hatte
ich vor allem jene Stimme im Ohr, die unglaubliche, unverhohlene Genugtuung,
mit der die tiefe, schottische Stimme diese drei Worte sprach. Tote vernehmen
keine Flüche, und Unflat und Wut alles Irdischen bedeuten nichts für einen
Geist; trotzdem hoffe ich, daß dereinst in meinem Requiem kein solcher Ton zu
hören sein wird. Ich sagte mit einer Strenge, als sei ich Burgherr auf Erchany
und Polizeichef der Grafschaft in einer Person: »Wer sind Sie, und was haben
Sie hier zu suchen?«
    Der Mann sah mich im Licht der Laterne trotzig an, ein stattlicher
älterer Mann, dessen vom Wetter gegerbtes Gesicht den Bauern verriet. »Rob
Gamley heiße ich; ich bin hier, weil ich ein Wort mit dem Gutsherrn sprechen
wollte. Aber jetzt hält der Herr sein Schwätzchen mit denen, die besser wissen,
wie man mit seinesgleichen fertigwird.«
    Ich wandte mich von diesen grausamen,

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