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Klagelied auf einen Dichter

Klagelied auf einen Dichter

Titel: Klagelied auf einen Dichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Innes
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unangemessenen ästhetischen Betrachtungen niederzwingen,
bevor ich mich an die genauere Untersuchung machen konnte.
    Wo Guthries Körper aufgeschlagen war, war der Schnee zur Seite
gespritzt, als sei ein großer Meteor dort niedergegangen, und umgeben war
dieser Krater von den zahlreichen Fußstapfen, die wir hinterlassen hatten, als
wir den Leichnam bargen. Doch jenseits dieses Zirkels waren die Fußspuren
eindeutig genug. Und ebenso eindeutig war die Geschichte, die sie erzählten.
Etwa zehn Schritt von der Stelle, an der Guthrie niedergestürzt war, war Gamley – was nicht ungefährlich gewesen war – in den Graben gesprungen und direkt zu
dem Leichnam gelaufen. Als er mich verließ, hatte er denselben Weg zurück
genommen, jedoch festgestellt, daß er nicht so leicht wieder nach oben kam, und
sich zu der kleinen Brücke vorgearbeitet, über die auch Sybil und ich zur
Hintertür gelangt waren, als wir hier ankamen. Dort hatte er leicht aus dem
Graben hinaufklettern können und hatte es mit einer solchen Zielstrebigkeit
getan, daß sich daraus schließen läßt, daß er mit der Geographie von Erchany
bestens vertraut ist. Ich kletterte ebenfalls dort hinauf und folgte seinen
Fußstapfen – die oben schon fast verweht waren – fort von der Burg. Nicht
lange, und sie vereinigten sich mit jenen, die gerade noch sichtbar zu der
Stelle führten, an der er hinabgesprungen war. Gamley war aus dem Dunkel der
Nacht gekommen und in das Dunkel zurückgekehrt. Wahrscheinlich war er unterwegs
zu der kleinen Hintertür gewesen, als er Guthrie stürzen sah.
    Ich kehrte in den Burggraben zurück und ging, so beschwerlich das
auch war, noch einmal den ganzen Zirkel ab. Das Bild, das ich so gewann, war
vollkommen klar: Gamley kam aus der einen Richtung zur Leiche, Sybil,
Hardcastle und ich aus der anderen; danach hatten wir Guthrie im Gänsemarsch
ins Haus gebracht, und Gamley war wieder gegangen, auf dem Weg, den er gekommen
war. Meine Erkundungen mögen vergeudete Mühe gewesen sein, aber sie
verschafften mir doch das gute Gefühl, daß ich meine Arbeit so ordentlich wie
möglich gemacht habe.
    Hardcastle lauerte am Ende des Ganges, der zur Hintertür führte;
vielleicht hatte er doch noch Hoffnung gehabt, in den Keller zu kommen – wenn
seine Frau schon als Hexe durchgehen würde, dann kann man ihn nur noch als
Ghoul beschreiben. Und nun kam er auf mich zu und sagte heiser: »Es ist Mord.«
    »Das wird sich noch herausstellen, Mr.   Hardcastle. Kommen Sie mit
nach oben.«
    »Glauben Sie mir, der Drecksjunge Lindsay hat ihn gestoßen und ihm
das angetan. Habe ich dem Herrn nicht gesagt, es kann nichts Gutes draus
werden, wenn er sich mit einem Lindsay einläßt? Er hat ihn umgebracht, er hat
ihm das angetan, und jetzt ist er mit dem Mädel auf und davon.«
    Ich war dem Unmenschen vorausgegangen, doch nun drehte ich mich doch
zu ihm um: »Was sagen Sie da?«
    Ein widerliches Grinsen lief über sein Gesicht, so als ob er sagen
wolle: »Hab’ ich’s dir endlich gezeigt«; dann, wie schon einmal, kam die
schmutzige Hand hinter dem Rücken hervor, und er fuhr sich damit über das Kinn.
Es ist unglaublich, mit welch stumpfsinniger Bosheit er fortfuhr: »Wollen Sie
es wissen?«
    Doch was immer er sich, unverschämt wie er war, an Spannung von
dieser Bemerkung versprochen hatte, wurde ihm verdorben durch den Lärm, der im
selben Augenblick unmittelbar über uns einsetzte, ein Heulen und Jammern, das
mir durch Mark und Bein ging. Ein verzweifelter Kampf zwischen Wölfen und
Hyänen hätte, könnte ich mir vorstellen, ähnliche Laute hervorgebracht; es
dauerte einige Sekunden, bis ich begriff, daß das, was ich da hörte, Erchanys
Totenklage für Ranald Guthrie war – eine Klage, die zu etwa zwei Fünfteln von
Mrs.   Hardcastle bestritten wurde, zu zwei Fünfteln von dem schwachsinnigen
Stallburschen und zum letzten Fünftel von den Hunden im Hintergrund. Die
Tonlage änderte sich, als wir auf der obersten Treppenstufe anlangten: Tammas,
der Bursche, senkte die Stimme zu einem leisen Wimmern, und Mrs.   Hardcastle
brachte einige halbwegs artikulierte Worte heraus. Sybil stand zwischen den
beiden und blickte so betont kühl und ernst drein, daß ich den Eindruck hatte,
daß die Ereignisse der Nacht sie nun doch allmählich überwältigten.
    »Beklagt sei der Tag, beklagt sei der Tag! Der gute Herr ist tot,
der gute Herr ist tot, und das Kind ist davon mit dem Lindsay!«
    Es war merkwürdig anrührend, wie die alte Frau ihre Klage

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