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Klagelied auf einen Dichter

Klagelied auf einen Dichter

Titel: Klagelied auf einen Dichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Innes
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eine unerwartet breite Treppe, die im
raschen Wechsel von einem Absatz zum nächsten führte, jeder zweite davon durch
schmale Fenster erhellt. Die Wolken hatten sich offenbar gelichtet; durch die
Fenster fiel das bleiche Licht eines ermatteten Mondes und der vom Schnee
zurückgeworfene Widerschein; und dies Mondlicht war es, was den nächsten
Sekunden ihre besondere, makabre Wirkung verlieh. Die Treppenstufen nahmen und
nahmen kein Ende – ich war eben zu dem Schluß gekommen, daß Guthrie seine Wache
offenbar im allerobersten Raum des Turmes hielt –, als von oben ein einzelner,
entsetzlicher Schrei erscholl. Im nächsten Moment verdunkelte sich das Fenster,
an das wir gerade gelangt waren, den Bruchteil einer Sekunde lang, als habe
jemand blitzschnell eine Blende vor den Mond gezogen und sie dann wieder
geöffnet. Und dann – und den Zeitraum, der verging, konnte man am ganzen Körper
spüren – drang ein leiser, dumpfer Schlag von unten herauf.
    Wir hatten wohl beide sofort begriffen, was geschehen war. Für mich
war der leise Schlag um vieles entsetzlicher als der Aufschrei, der ihm
vorausgegangen war; Hardcastle, drei oder vier Schritte voraus, rief: »Gott im
Himmel, habe ich ihn nicht gewarnt!« Dann hörten wir Schritte.
    Was dann geschah, geschah binnen Sekunden. Ein junger Mann erschien
auf dem Treppenabsatz über uns. Hardcastles Laterne leuchtete ihm nur einen
einzigen Moment lang ins Gesicht – doch in diesem einen Augenblick sah ich ein
Bild, das sich mir ins Gedächtnis eingebrannt hat, ein Bild äußerster
Leidenschaft: ein dunkles, gespanntes Antlitz, aus dem alles Blut gewichen war,
die Zähne zusammengebissen, und Augen, die funkelten wie Guthries Augen.
»Lindsay!« rief Hardcastle und machte einen ungeschickten Versuch, ihn zu
halten – so ungeschickt, daß ich mich fragte, ob er womöglich betrunken war; im
nächsten Moment war der Junge an uns vorübergestürmt, ohne uns auch nur zu
beachten. Vielleicht hätte ich ihn aufhalten müssen; ich fürchte, im
entscheidenden Augenblick habe ich die Lage nicht rasch genug begriffen.
Hardcastle schien unschlüssig, ob er ihm nacheilen oder weitergehen sollte;
dann stieg er mit einem Fluch weiter hinauf. Ich konnte ihm nur folgen.
    Es waren noch mehrere Stockwerke bis nach oben, doch nun wurde die
Treppe schmaler, und es gab keine Fenster mehr. Auf dem Weg nach oben hatte ich
auf jedem Absatz eine einzelne massive Tür gesehen; eine weitere passierten wir
noch, dann stiegen wir heftig keuchend zur allerletzen auf, die gar noch
wuchtiger war als die anderen. Hardcastle warf sie auf. Vor uns lag ein
niedriger, quadratischer Raum, als Studierstube eingerichtet und mit den
üblichen wenigen Kerzen erhellt. Und mitten in dieser Stube stand Sybil
Guthrie.
    Einen Moment lang standen wir da wie Schauspieler, die zum Tableau
erstarrt sind, bis der Vorhang fällt; dann stürmte Hardcastle auf Sybil zu, von
einer plötzlichen unmäßigen Wut gepackt. »Du kleines Miststück –!«
    Wer weiß, was er noch weiter Beleidigendes gesagt hätte. Es war mir
eine Genugtuung, den Schurken bei der Schulter zu fassen – vielleicht war es
auch der Kragen – und ihn zum Schweigen zu bringen. Doch meine beherzte Tat
hatte weitreichendere Folgen, als ich erwartet hatte. Vom selben
Augenblick an blieb Hardcastle mürrisch und auf eine aufsässige Weise
stur, und so stand ich nun da und mußte erkennen, daß das Ruder, mit dem wir
durch die Ereignisse auf Erchany zu steuern hatten, an mich übergegangen
war. Ob ich nun wollte oder nicht, ich hatte das Kommando, bis fähigere und
berufenere Leute eintrafen.
    Ich blickte Sybil an. »Wo ist Guthrie?«
    Einen Sekundenbruchteil zögerte sie und blickte mißtrauisch, doch
gefaßt, von einem zum anderen. Dann sagte sie leise, mit ein wenig unsteter
Stimme: »Er ist vom Turm gestürzt.« Und wie zur Erklärung wies sie auf eine
zweite Tür, gleich neben jener, durch die wir eingetreten waren.
    Ich nahm Hardcastle die Laterne aus der Hand und sah mich um. Ich
fand eine kleine, schmale Schlafkammer mit den gleichen schmalen Fenstern wie
im Treppenhaus, und eine weitere massive Tür, die nun, sich in ihren
Angeln wiegend, offenstand, so daß man in das schwarze Nichts hinaussah, fast
genau gegenüber der Tür, in der ich stand. Ich ging hinüber und blickte nach
draußen. Ich mußte mich am Türpfosten festhalten, denn der Wind – auch wenn er,
glaube ich, zusehends abflaute – war dort oben gewaltig. Vor mir lag eine
schmale

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