Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Klagelied auf einen Dichter

Klagelied auf einen Dichter

Titel: Klagelied auf einen Dichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Innes
Vom Netzwerk:
pietätlosen Worten ab und machte
mich an die Untersuchung der Leiche, und ich fragte mich dabei, ob Guthrie wohl
eine einzige Menschenseele zurückließ, die ihn betrauerte. Christine vielleicht – das konnte ich nicht sagen. Daß er vor jenen Richter getreten war, auf den Gamley
angespielt hatte, daran gab es keinen Zweifel; sein Genick war gebrochen, und er
mußte auf der Stelle tot gewesen sein.
    So stand denn unser kleines Grüppchen und umringte den Toten, und ich
mußte entscheiden, was als nächstes zu tun war. Vielleicht hätte ich darauf bestehen
müssen, daß der Leichnam an Ort und Stelle blieb; so ist es ja wohl üblich, wenn
Grund zu dem Verdacht besteht, daß es nicht mit rechten Dingen zuging. Aber gab
es denn nun tatsächlich etwas, womit man diesen Verdacht begründen konnte? Auf der
einen Seite stand Sybils Aussage, Guthrie sei vom Turm gestürzt; auf der anderen
stand nur das, was man atmosphärische Beweise nennen könnte – Gewalttat und Geheimnis,
die einfach in der Luft lagen oder auf die kurioseste Weise Gestalt angenommen hatten
in dem unglaublichen Auftritt der gelehrten Ratte. Kurz, ich wußte nicht, welchen
Nutzen jemand davon haben sollte, daß wir Ranald Guthries sterbliche Überreste im
Burggraben liegen ließen, und fand es unanständig von uns – eine Unanständigkeit,
die Gamley, ich weiß nicht wie, mit seinen bitteren Worten noch unterstrichen hatte.
So kommandierte ich nur kurz: »Miss Guthrie geht wohl am besten mit Lampe und Laterne
voraus, und wir werden den Leichnam ins Haus tragen. Mr.   Gamley, Sie werden so
freundlich sein zu helfen.«
    Als habe er sich plötzlich besonnen, was sich gehört, nahm Gamley
die Kappe ab. Die Bewegung ließ mich zu ihm hinüberblicken, und ich sah, wie er
aufmerksam und ohne jede Spur von Wärme Hardcastle beobachtete. Und als ich
seinem Blick folgte, da sah ich etwas sehr Seltsames: ganz offensichtlich hatte
der Unmensch eine Heidenangst vor Gamley und hielt Abstand, wie man Abstand vor
einem Bären an seiner Kette hält. Zugleich warf er aber auch immer wieder
Blicke zu Guthries Leichnam hinüber, mit genau jener verstohlenen und doch
erregten Aufmerksamkeit, mit der er – ich sah ihn in Gedanken vor mir – sich
eine obszöne Fotografie besehen hätte. Bei keinem dieser beiden Impulse wußte
ich, was ihn hervorrufen mochte, doch die Kombination aus beidem war unglaublich
abstoßend. Da war mir Gamleys Respektlosigkeit um vieles lieber. Ganz impulsiv – und wahrscheinlich herablassend genug – befahl ich Hardcastle, ins Haus zu
gehen und einen Platz vorzubereiten, an dem wir den Leichnam ablegen konnten.
Gamley und ich folgten mit unserer Last, so gut es ging.
    Wir legten den Toten zunächst auf eine Art steinernen Tisch in einem
Keller nicht weit von der Tür zum Burggraben. Sybil leuchtete uns, wie
angewiesen; dann sprach sie: »Tja, dann bin ich wohl dran. Ich gehe und bringe
es Christine bei« und verschwand nach oben. Das war gut für sie, dachte ich,
und wahrscheinlich ohnehin die beste Lösung; wer weiß, wie ungeschickt ich mich
angestellt hätte.
    Ich schickte Hardcastle davon, ein Bettuch holen. Gamley, noch immer
die Kappe in der Hand, betrachtete den Toten mit einem forschenden Blick. Dann
schritt er zur Tür. »Moment«, sagte ich, »wo wollen Sie hin?« Denn ich fand,
daß er uns Rechenschaft schuldig war. Wiederum blickte er mir ruhig ins
Gesicht. »Junger Herr«, antwortete er, »ich gehe dem Teufel Bescheid sagen, daß
er besser sein Silber einschließt.« Und mit diesem grimmigen Scherz war er auf
und davon.
    Das war nun also, ging mir durch den Kopf, der zweite geheimnisvolle
Besucher, den ich in dieser Nacht hatte entfliehen lassen. Für einen Ort, der
so gut wie abgeschnitten von der Welt war, hatte Erchany sich als ausgesprochen
belebt erwiesen. Woher war Neil Lindsay gekommen, woher Gamley? Wer hatte die
Ratten mit ihren Botschaften ausstaffiert? Wer hatte im Schulzimmer mit Christine
gesprochen? Und war Hardcastles Doktor je gekommen? Doch all diese kleinen
Rätsel waren überschattet vom größten von allen, dem Rätsel des Todes.
    Diana, ein Mann kann einen Schrei des Schreckens oder Schmerzes
ausstoßen, er kann zweihundert Fuß weit in die Tiefe stürzen, sich den Hals und
alle anderen Knochen im Leibe brechen, und doch am Ende daliegen wie ein Kind,
das in seiner Krippe schläft! Gewiß, es ist nur ein Trick der Muskeln im
allerletzten Moment, aber doch etwas Seltsames und Ehrfurchtgebietendes, wenn
man

Weitere Kostenlose Bücher