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Klagelied auf einen Dichter

Klagelied auf einen Dichter

Titel: Klagelied auf einen Dichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Innes
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Plattform, deren Schnee ganz zertreten war; umsäumt war sie von einer
niedrigen, mit Zinnen besetzten Mauer – die originale Brustwehr, nehme ich an,
des alten Turms. Ich tastete mich vorsichtig bis zur Kante vor und blickte
hinunter. Es war nichts zu sehen außer der schwarzen Nacht und nichts zu hören
außer dem Pfeifen und Seufzen des Windes. Ich führte mir vor Augen, wie viele
Stockwerke weit ich gerade die Turmtreppe emporgeklommen war, und mir war klar,
daß der Mann, der von diesen Zinnen gestürzt war – so dick die Schneedecke
unten auch sein mochte –, tot war. Mein erster Gedanke – was zeigt, wie seltsam
praktisch man in solchen Notfällen denkt – mein erster, erleichterter Gedanke war,
daß wir wenigstens keine verzweifelten Versuche mehr unternehmen mußten, ihm zu
helfen. Mein zweiter Gedanke, der sich unmittelbar aus dem ersten ergab, galt
der Sorge, daß auf keine Hilfe von außen zu hoffen war, wenn tatsächlich ein Unhold
unter uns wütete. Und als dritter stellte sich sogleich das Bild des
Schurken Hardcastle ein, der in meiner Phantasie ja längst zum Inbegriff des
grausigen Unholds geworden war.
    Ich kehrte zurück in die Studierstube, verzweifelt bemüht, Ordnung
in das Chaos in meinem Kopf zu bringen. Eines war schon nach kurzem Nachdenken
klar: Ranald Guthrie, wenn er nicht betrunken oder tatsächlich irrsinnig
gewesen war, wenn er nicht schlafwandelte oder in Trance war, konnte kaum durch
ein schieres Unglück in die Tiefe gestürzt sein. Und da war es ein Schock, wenn
ich an Sybils teilnahmslose Worte zurückdachte: »Er ist vom Turm gestürzt.« Sie
legten – wenn man sie so wörtlich nahm, wie der Tonfall es geradezu forderte – nahe, es als einen reinen Unglücksfall anzusehen. Und mit einem Schlage begriff
ich die ganze Tragweite einer solch geheimnisvollen Gewalttat, begriff, in
welcher Atmosphäre ich die letzten dreißig Stunden verbracht hatte. Spannung,
Furcht, düstere Stimmung, gelehrte Ratten, gewaltsamer Tod: all das führte
immer wieder zum selben Schluß – auf dieser Burg war etwas Grausiges im Gange.
Erchany als Spielplatz eines bösen Zauberers: das war eine Phantasie aus
vergangener Zeit; was nun in der Nacht im Turm geschehen war, machte es zum
Fall für den Untersuchungsrichter und für die Kriminalpolizei. Zehn Meilen von
hier, zehn Meilen durch mannshohen Schnee, gab es gewiß einen Dorfpolizisten;
zwanzig Meilen fort gar eine Polizeiwache; und in Aberdeen oder Edinburgh
vielleicht die Beamten, die einer Angelegenheit wie dieser gewachsen waren. Ich
muß von Sybil zu Hardcastle und von Hardcastle zu Sybil mit einer Miene
geblickt haben wie ein kleiner Junge, der zum ersten Mal in seinem Leben eine
eigene Entscheidung fällen muß.
    Guthrie konnte diesen Sturz nicht überlebt haben: trotzdem war es
ein natürlicher Impuls, als erstes hinunterzugehen und nach seinem Leichnam zu
sehen. Wenn jedoch ein Verbrechen geschehen war, so fand ich, daß man weder
Sybil – deren Gegenwart im Turm ja bisher nicht erklärt war – noch den
sinistren Hardcastle allein am Tatort zurücklassen durfte. Sybil hätte man zu
Christine schicken können – nur daß es anständiger gewesen wäre, wenn ich
persönlich ihr berichtete, was geschehen war, und das mußte warten, bis ich
draußen gewesen war und mich vergewissert hatte. Für den Augenblick war es das
beste, wenn wir drei aus dem Turm zusammenblieben.
    Während ich mir noch solchermaßen Gedanken um die Etikette bei
Gewalttaten machte, blickte ich mich um. Ich will Dir die Szenerie beschreiben,
so wie ich sie teils da, teils später, erkundete.
    Dies oberste Stockwerk des Turmes springt von den darunterliegenden
auf allen vier Seiten ein Stück zurück und ist folglich ganz umgeben von einem
schmalen zinnenbewehrten Gang – einer Brustwehr –, von deren Mauer es
geradewegs zu Haus und Burggraben in die Tiefe geht. Es gibt zwei Treppen:
eines ist eine kleine Wendeltreppe, die zu einer Falltür in einer der vier
Ecken der Brustwehr führt; die andere ist die Treppe, über die ich
heraufgekommen war und deren oberste Türe direkt in die Studierstube führt. Von
dort gibt es eine Tür zur Brustwehr und eine weitere zu dem kleinen
Schlafzimmer – das wiederum eine Tür hinaus auf die Brustwehr hat. Alle Fenster
sind schmal, kaum mehr als Schießscharten.
    Ich beschloß, daß ich, wenn möglich, alles absperren sollte. So nahm
ich mir von Hardcastle zum zweiten Mal die Laterne, um die Wendeltreppe zu erforschen,
und

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