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Klagelied auf einen Dichter

Klagelied auf einen Dichter

Titel: Klagelied auf einen Dichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Innes
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der
gerichtlichen Untersuchung der Polizei zu lesen geben. Und ob Sie mir nun wohl
näher berichten könnten, wie es kam, daß überhaupt ein solcher Brief an Sie
geschrieben wurde?«
    Bell faßte mir kurz jenes Gespräch mit Christine Mathers zusammen,
das er in seinem Teil dieses Berichtes ausführlich aufgezeichnet hat. Ich war
erschüttert, von den Fakten wie auch von der Deutung, die der Schuhmacher von
Kinkeig ihnen unterschwellig gab. Wenn Guthrie bei jener letzten Unterredung im Turm
Lindsay nicht mit Geld abfinden, sondern ihn mit Miss Mathers auf die Reise
schicken wollte, dann war die Stimmung dieser Unterredung, so wie Miss Guthrie
sie beschreibt, nur angemessen. Und es war durchaus vorstellbar, daß Guthrie,
ein äußerst labiler Mann, es einfach nicht ertragen konnte, daß er die Nichte
an seinen Widersacher verlor, und sich das Leben genommen hatte, worauf Miss
Guthrie ja offenbar nach wie vor beharrte.
    Daß jedoch einiges gegen den jungen Lindsay sprach, lag auf der
Hand. Die offene Feindschaft gegenüber Guthrie, sein dramatisches Erscheinen im
Treppenhaus unmittelbar nach dem Sturz, der aufgebrochene Sekretär, seine
Flucht mit Miss Mathers: das genügte allemal, ihn anzuschuldigen. Das einzige,
was ihn schützte, war die kategorische Aussage meiner Mandantin Miss Guthrie,
die versicherte, daß Guthrie am Leben gewesen war, als Lindsay den Turm
verließ. Diese Aussage wurde nun durch die Informationen, die Bell lieferte,
und durch den Brief, den er besaß, untermauert, denn sie zeigten, daß der
Streit, der um Lindsays Werben entstanden war, beigelegt werden sollte – eine
Einigung, deren letzten Schritt Miss Guthrie kurz vor Mitternacht aus ihrem
Versteck vor Guthries Studierstube beobachtet hatte. Jemand, dem es darauf
ankäme, Argumente gegen Lindsay anzuführen, könnte gewiß sagen, der Brief sei
Teil einer ausgeklügelten Verschwörung gegen Guthrie gewesen, doch für den
Augenblick schien mir das zu weit hergeholt, als daß ich es weiter verfolgte.
Ich wandte mich einer anderen Frage zu.
    »Mr.   Bell, die ganze Sache ist wirklich unglaublich. Miss Mathers’
Brief legt den Schluß nahe, daß sie am Weihnachtstag in aller Stille
fortgeschickt – ja regelrecht verstoßen werden sollte. Es wurde erwartet, daß
sie und ihr zukünftiger Ehemann das Land verließen und aus Mr.   Guthries Leben
verschwanden. Das ist unnatürlich und hart genug und wird jeden überzeugen, daß
der Verstorbene in seinem Wesen mehr als nur exzentrisch war. Aber was sollen
wir davon halten, daß dieser Aufbruch für die Mitternacht festgelegt war – und
daß Guthrie allem Anschein nach darauf bestand, selbst als er sah, wie
stürmisch die Nacht war? Man kann sich ja kaum vorstellen, daß die beiden
jungen Leute überhaupt lebend aus dem Schnee herausgekommen sind.«
    Bell nickte und schwieg einen Moment lang. Dann antwortete er auf
den letzten Punkt zuerst. »Sie haben auf ihr Glück vertraut und sind in dem
mörderischen Sturm aufgebrochen, weil ihr Inneres sie dazu trieb. Aber Sie
wissen ja wahrscheinlich, Mr.   Wedderburn, daß bald danach der Sturm nachließ
und sogar der Mond ein wenig durchkam. Lindsay ist ein kräftiger, geschickter
Junge; er wird das Mädchen schon sicher zu seiner Familie nach Mervie gebracht
haben. Am nächsten Morgen konnten sie nach Dunwinnie, und von da an war es
nicht mehr schwer.«
    »Aber ob jemand sie in Dunwinnie gesehen hat, können Sie nicht
sagen?«
    »Ich habe nichts gehört. Bei dem Trubel, der dort mit dem
Eisstockschießen herrscht, könnten sie gut durchgeschlüpft sein, ohne daß
jemand sie gesehen hat. Und daß der Gutsherr sie still um Mitternacht aus dem
Haus geschickt hat, mitten in den Sturm, das paßt zu seiner schwarzen Seele.«
    »Und Sie meinen, das hat er tatsächlich getan?«
    »Da bin ich überzeugt.«
    »Und dann brachte er sich in einer Art Verzweiflung um?«
    »Ich denke mir, das ist der Schluß, zu dem wir kommen werden, Mr.   Wedderburn.«
    Ich blickte Ewan Bell forschend an. »Und wie erklären Sie sich dann,
daß Gold verschwunden ist?«
    Seine Verblüffung war nicht zu übersehen. »Gold, Sir? Davon weiß ich
nichts.«
    »Eine Schublade in einer Ecke des Zimmers wurde, wie ich höre,
brutal aufgebrochen, und allem Anschein nach wurde Gold entwendet.«
    »Das ist nicht so schwer zu erklären, wie Sie vielleicht denken, Mr.   Wedderburn. In Christines Brief steht ja, daß Guthrie ihr Geld geben wollte – ihr eigenes –, und die Schublade kann er

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