Klagelied auf einen Dichter
darauf
erblickten, ›ein Bild äußerster Leidenschaft‹ gewesen. Dieser Widerspruch kann
unter Umständen sehr wichtig werden. Sind Sie sicher, daß Sie sich nicht
getäuscht haben?«
»Ja«, antwortete Gylby, zögernd, doch mit Überzeugung.
»Miss Guthrie konnte die beiden mit, könnte man sagen, Muße
beobachten. Sie hingegen sagen, daß alles ›binnen Sekunden‹ geschah, ›in einem
einzigen Moment‹. Ist es denn nicht wahrscheinlicher, daß Sie sich irren, als
daß Miss Guthrie sich irrt?«
Ich fand es ratsam, diesem ein wenig leichtfertigen jungen Mann auf
den Tonfall vorzubereiten, in dem eine Befragung der Art, wie sie uns
bevorstand, vielleicht geführt wurde. Doch er antwortete sehr ruhig und ohne
Zaudern: »Die Möglichkeit besteht, Mr. Wedderburn. Trotzdem glaube ich nicht,
daß mein Eindruck falsch war.«
Ich glaube, das war der Augenblick, in dem sich – wenn auch zunächst
noch sehr provisorisch – mein Eindruck dessen bildete, was wirklich auf Erchany
geschehen war. Und wenn sich bewahrheitete, was ich vermutete, dann war ich in
einer recht delikaten Lage. Ich wandte mich einem anderen Punkt zu.
»Wie steht es mit diesem Hardcastle, Mr. Gylby? Da haben Sie gewisse
Vorurteile, nicht wahr? Jemand, der Ihr Tagebuch läse, könnte sagen, daß Sie
ihm gegenüber recht feindselig waren, von dem Augenblick an, in dem er Sie so
unfreundlich auf Erchany begrüßte?«
Doch Gylbys einzige Antwort war: »Warten Sie ab, bis Sie ihn sehen.«
»Und Sie meinen, daß er in dieser Angelegenheit seine eigenen
verborgenen Absichten verfolgt?«
»Er führte etwas im Schilde. Guthrie hat ihm den Auftrag, mich in
den Turm zu bitten, nie gegeben.«
»So scheint es zumindest Miss Guthrie zu sehen.«
Mit unerwarteter Heftigkeit entgegnete Gylby: »Sybil sagt die
Wahrheit.«
»Nichts läge mir ferner als das Gegenteil anzudeuten. Haben Sie denn
eine Idee, warum Hardcastle Ihnen eine falsche Botschaft überbrachte?«
»Ich könnte mir vorstellen, daß es einfach nur eine stumpfsinnige
Bosheit gegenüber seinem Herrn war. Auf dem Weg nach oben torkelte er ein-
oder zweimal gegen die Wand des Treppenhauses und benahm sich überhaupt sehr
erratisch, unlogisch. Womöglich ist er nicht nur ein Gauner, sondern ein Säufer
dazu.«
»Also kein Mann, der ein kompliziertes Betrugsmanöver im Schilde
geführt hätte?«
Gylby schüttelte den Kopf. »Verschlagen ist er schon. Aber ich glaube
nicht, daß er den Weitblick dafür hätte.«
»Noch ein anderer Punkt. Sie hatten den Eindruck, daß Guthrie
wahnsinnig war? Und dieser Eindruck hatte sich schon gebildet, bevor Sie Mrs. Hardcastle von den Ärzten reden hörten, die einige Jahre zuvor offenbar
gekommen waren, um seinen Geisteszustand zu untersuchen?«
»Es dauerte nur wenige Minuten, bis sich das Gefühl einstellte, daß
ich es mit einem Irrsinnigen zu tun hatte. Aber verstehen Sie mich nicht
falsch, Sir; ich nehme das Wort in einem sehr allgemeinen Sinne. Ich glaube
nicht, daß es die Art von Verwirrung war, für die man jemanden ins Irrenhaus
gesteckt hätte; das bestimmt nicht. Es war eher, als lebte er im Schatten von
etwas, das kein Mensch ertragen kann, ohne den Verstand zu verlieren, wenn er erst
einmal anfängt, daran zu denken. Er war gebrochen, gespalten. Er war rasend wie
die antiken Heroen es waren, wenn die Furien sie hetzten.«
Ich betrachtete den jungen Mann mit ganz neuen Augen. »Eine höchst
aufschlußreiche Bemerkung, Mr. Gylby. Ich habe all unseren pädagogischen
Reformern stets entgegengehalten, daß es nichts gibt, was den Geist mehr
schärft als eine gute klassische Bildung.«
III.
Die Straße von Dunwinnie nach Kinkeig und die Straße von Kinkeig
durch das Erchany-Tal nach Castle Erchany bilden mit dem langen, schmalen Loch
Cailie ein ungefähr gleichseitiges Dreieck. In der Mitte dieses Dreiecks ragt
der gewaltige Ben Cailie auf, im Süden flankiert von dem kleineren Gipfel des
Ben Mervie, von dem ihn das Tal von Mervie und der gefährliche Mervie-Paß
trennen. Dies Panorama – Gipfel um Gipfel mit ihrem unberührten Schnee, wie sie
beide der bleichen Sonne des Winterhimmels zustreben – begleitete uns auf
unserer Fahrt zur Rechten, ein Schauspiel, friedlich und erhebend zugleich. Den
letzten Teil verbrachten wir schweigend, ein Schweigen, das erst mein
unwillkürlicher Laut der Überraschung brach, als wir um eine Kurve bogen und am
letzten Arm des Sees die Burg auftauchte. Als historisches Bauwerk ist sie,
würde ich
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