Klagelied auf einen Dichter
Gespenst auch gesehen?«
»Das nicht.«
»Kommt es öfter vor, daß Mrs. McLaren Gespenster sieht?«
Die Wirtin war tief beeindruckt von dieser Frage. »Daß Sie gerade
danach fragen, Sir! Sie kommt aus den Highlands, müssen Sie wissen, und hat das
zweite Gesicht; sie sagt auch, daß sie den Schwachkopf von Erchany gesehen hat,
eine Vision von ihm, wie er durch den tiefen Schnee kommt und Guthries Tod
verkündet. Und sie war auch die erste, die bemerkt hat, daß Guthrie den bösen
Blick hatte.«
»Nun, Mrs. Roberts, um es mit Ihren eigenen Worten zu sagen, einen
besseren Beweis könnten Sie doch gar nicht haben. Und wer hat das Gespenst als
nächstes gesehen?«
Mrs. Roberts bedachte mich mit einem recht mißtrauischen Blick. »Die
nächste wäre Miss Strachan gewesen, die Lehrerin.«
»Miss Strachan. Und diese Miss Strachan hatte nicht vielleicht
zufällig einen Grund, sich in letzter Zeit in Gedanken viel mit Erchany und den
Geschehnissen dort zu beschäftigen?«
Mrs. Roberts’ Mißtrauen nahm nun eher respektvolle Züge an. »Da
haben Sie ganz recht, Sir! Es ist noch nicht lange her, da hat die junge
Strachan eine gräßliche Begegnung mit dem Herrn von Erchany gehabt.«
»Was Sie nicht sagen. Und wer hat Mr. Guthries Geist noch gesehen?«
Mrs. Roberts dachte nach. »Also ich weiß nicht, ob sonst noch jemand –«
»Nur die beiden? Haben Sie nicht vorhin gesagt, es sei eine ganze
Reihe von Leuten gewesen?«
Ich hatte fast ein schlechtes Gewissen, daß ich Mrs. Roberts diesem
Verhör unterzog; sie blickte so verlegen drein. »Nein«, antwortete sie, »ich
glaube, sonst eigentlich niemand. Außer natürlich –«
An dieser Stelle wurden wir von ihrem Mann unterbrochen, der einen
letzten Rundgang machte, bevor er das Gasthaus für die Nacht verschloß. »Mr. Wedderburn, Sir«, fragte er an, »Sie werden gewiß noch einen Schlummertrunk
wollen? Ein Grog wäre das richtige, nicht wahr, bei diesem grimmigen Wetter?«
Mrs. Roberts ergriff meine leere Tasse. »Noch eine gemälzte Milch,
Mr. Wedderburn?«
Ich spürte, daß hier eheliche Zwistigkeiten schwelten, die ich ja
nun nicht noch mehren wollte; ich murmelte etwas vor mich hin, nahm meine Kerze
und ging auf mein Zimmer. Aber so halb erwartete ich dennoch, so erfolgreich
ich auch Mrs. Roberts’ Geschichte die übernatürlichen Töne ausgetrieben hatte,
daß der Geist des Ranald Guthrie von Erchany auf dem Korridor auf mich wartete.
Am Morgen erwachte ich von lautem Geschrei; ich eilte zum Fenster
und sah, daß es von der versammelten Jugend von Kinkeig ausging und daß der
Anlaß das Erscheinen eines schlanken, hoch aufgeschossenen jungen Mannes am
anderen Ende des Dorfes war, eines Mannes von so selbstsicherer Erscheinung,
daß ihm weder Erschöpfung noch der derangierte Zustand seiner Kleider etwas
anhaben konnten, noch die Gerätschaften auf seiner Schulter – der Hauptgrund
für jene jugendliche Begeisterung, die mich aufgeschreckt hatte –, die sich,
als er näher kam, als ein Paar Skier mit zugehörigen Stöcken erwiesen. Der
Schluß lag nahe, daß ich hier einen Besucher aus Erchany vor mir hatte; ich
kleidete mich rasch an und begab mich nach unten. Wie ich schon vermutet hatte,
wartete der junge Mann auf mich. Er begrüßte mich mit den Worten: »Ich bin Noel
Gylby. Und Sie müssen –« Ich rechnete halb damit, daß er sagen würde: »der Mann
sein, den mein Onkel geschickt hat«, doch statt dessen fuhr er fort: »– der
Herr sein, der so freundlich war, uns zu Hilfe zu kommen?«
»Mein Name«, erwiderte ich, »ist Wedderburn. Ich bin hier, um Ihnen
zu helfen, so gut es in meinen Kräften steht.«
Freundlich, doch nicht ohne die Zurückhaltung, die sich für einen
Jüngeren gegenüber einem Älteren gehört, schüttelte Mr. Gylby mir die
Hand. »Wenn das so ist, Sir«, sagte er, »können Sie damit anfangen, daß Sie
mich zum Frühstück einladen!«
In der folgenden Stunde lernte ich Noel Gylby – wenn er auch ein wenig
zu sehr von seinem eigenen Charme eingenommen sein mochte – als angenehmen und intelligenten
jungen Mann kennen. Er lieferte mir einen lebhaften Bericht über die Ereignisse
auf Erchany – bisweilen wirklich das, was Aeneas einen »Reißer« genannt hätte, doch
dabei blieb er besonnen und klar: hier hatten wir, wenn die Zeit kam – sofern es
denn überhaupt notwendig wurde – einen ausgezeichneten Zeugen. Und noch glücklicher
fügte es sich, daß er auf Erchany Tagebuch
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