Klagelied auf einen Dichter
gut selbst aufgebrochen haben. Guthrie
war ein gewalttätiger Mensch; Sie werden gewiß noch die Geschichte zu hören
bekommen, in welch irrsinniger Wut er vor ein paar Wochen eine Tür aufgebrochen
hat.«
Daß Guthrie selbst die Schublade aufgebrochen und das Gold Miss
Mathers gegeben haben könnte, paßte, wie ich sah, wiederum gut mit Miss
Guthries Aussage zusammen, daß weder Guthrie noch Lindsay zu dem Sekretär
gegangen waren, solange Lindsay im Turm war. Und wieder sah ich mich mit einem
hypothetischen Hergang der Ereignisse konfrontiert, dessen logischer
Zusammenhalt bemerkenswert war: die letzte, angespannte Begegnung, der
verzweifelte Todessturz fast mit dem Glokkenschlag jener Stunde, die Frieden
auf Erden und große Freude verkündigen sollte. Ich dachte ein paar Augenblicke
lang schweigend darüber nach … und es überzeugte mich nicht.
Ich erhob mich. »Mr. Bell, es wird höchste Zeit, daß ich nach
Erchany fahre. Bisher weiß ich noch viel zu wenig, als daß ich die Dinge
wirklich beurteilen könnte. Aber ich bin Ihnen sehr dankbar, daß Sie gekommen
sind. Sie sind ein wichtiger Zeuge, und wir werden uns gewiß heute nachmittag
wiedersehen.«
»Denken Sie, daß das Urteil auf Selbstmord lauten wird, Mr. Wedderburn?«
»Zunächst einmal denke ich, daß die Polizei oder sonst jemand
Lindsay und Miss Mathers finden muß. Und ansonsten – daß die Wahrheit am Grunde
eines tiefen Brunnens liegt. Übrigens, können Sie mir noch etwas über einen
Mann namens Gamley sagen? Er war der erste, der bei Mr. Guthries Leiche im
Burggraben war.«
»Er war früher Bauer auf dem Hof des Gutes; nach einem Streit mit
dem Gutsherrn ging er fort.«
»Es fielen heftige Worte?«
Bell lächelte. »Es wird nicht leicht sein, in dieser Gegend jemanden
zu finden, der nie heftige Worte mit Guthrie von Erchany gewechselt hat. Aber
ich kann mir nicht vorstellen, daß er viel mit dieser Geschichte zu tun hat.
Wahrscheinlich ist er nur mit dem jungen Lindsay mitgekommen und wollte ihm auf
dem Rückweg zur Hand gehen. Die beiden haben in letzter Zeit Freundschaft
geschlossen.«
Und damit endete meine Unterhaltung mit Ewan Bell. Ich ging wieder
hinunter zu Gylby, der aus dem Zeitungsladen triumphierend mit einer Dose John
Cotton zurückgekehrt war, und wir gingen hinaus in die Kälte des Wintermorgens.
Die Skier kamen auf dem Dach des Wagens unter, mehrere Päckchen, die Gylby für
Mrs. Hardcastle besorgt hatte, übernahm der Fahrer, und wir machten uns unter
den neugierigen Blicken von ganz Kinkeig auf den Weg nach Burg Erchany. Wie
Mrs. Roberts mir beim Aufbruch noch anvertraute, hatte es keine solche
Aufregung mehr im Dorf gegeben, seit die Quacksalber da waren – ohne Zweifel
jener unglückselige Londoner Arzt, der etwa zwei Jahre zuvor mit seinen
Kollegen den nun Verstorbenen besucht hatte.
»Mr. Gylby«, sagte ich, als wir uns vorsichtig über die von den
Schneepflügen freigelegte Fläche vortasteten, »ich darf doch hoffen, daß
nichts« – ich zögerte – »Ungehöriges mit Guthries Leichnam geschehen ist?«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Nun, in Kinkeig erzählt man sich, daß dieser unglückselige Lindsay
ihm mehrere Finger abgehackt hat.«
Abrupt hielt Gylby im Stopfen seiner Pfeife inne. »Also diese
Schotten sind wirklich –«
»Das Allerletzte?«
Mein junger Bekannter hatte mich wohl als einen Mann gesehen, der
sich ein wenig umständlich auszudrücken beliebt; es bereitete mir
beträchtliches Vergnügen zu sehen, wie er geradezu zusammenfuhr, als ich mit so
knappen Worten zusammenfaßte, was ihm durch den Kopf ging. »Ich wollte sagen«,
entgegnete er, »daß sie ein Volk mit einem entschiedenen Hang zum Makabren
sind. Guthries Finger sind unberührt. Was ihm abhanden gekommen ist, ist sein
Gold.«
»Ich weiß … Und ich verstehe es recht, daß es die Interessen von
Miss Guthrie sind, die ich vertrete?«
»Wenn Sie so freundlich sein wollen.«
»Nun gut. Dann möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, daß eine
Aussage, die von Ihnen vorliegt, soweit ich sehe dem Zeugnis meiner Mandantin
widerspricht.« Ich tippte mit dem Finger auf Gylbys Tagebuchblätter, die ich
noch immer in Händen hielt. »Miss Guthrie sagt, daß es in der Unterhaltung
zwischen Guthrie und Lindsay nichts Hitziges gab; sie reichten sich die Hände
und gingen friedlich auseinander; es heißt sogar, daß Lindsay ›sanft‹ gewesen
sei. Sie hingegen sagen, Lindsay sei, als sie ihn kaum eine Minute
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