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Klagelied auf einen Dichter

Klagelied auf einen Dichter

Titel: Klagelied auf einen Dichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Innes
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doch, soweit ich sehen konnte,
nicht erschrocken. Sie wirkten beklommen – eine solche Flucht, ganz gleich
unter welchen Umständen, wird immer etwas Beklommenes haben –, doch wenn meine
Ankunft ihre Anspannung noch vergrößert hatte, dann nur deswegen, weil sie
befürchteten, daß lästige offizielle Angelegenheiten ihren Aufbruch verzögern
würden. Miss Mathers reagierte als erste; auch wenn sie bisher noch weniger
davon gesehen hatte als Lindsay, war sie doch tüchtiger im Umgang mit der Welt.
Von ihm hatte ich den Eindruck, daß er ein Mann war, der selbst in seiner
angestammten Umgebung halb verloren sein mußte, einer, der für nichts anderes
Augen hatte als für das eine, abstrakte, kaum recht verstandene Ziel, das er um
jeden Preis erreichen wollte. Miss Mathers sagte: »Kommen Sie bitte herein.«
    »Wenn ich recht informiert bin, kommen Sie beide von Castle Erchany
in Schottland? Und Sie, Madam, sind die Nichte von Mr.   Ranald Guthrie? Ich muß
Ihnen leider sagen, daß Mr.   Guthrie tot ist.«
    Lindsay stieß einen überraschten Ruf aus. Miss Mathers wandte sich
wortlos ab und ging für ein paar Augenblicke in eine finstere Ecke des
armseligen kleinen Zimmers. Als sie sich mir wieder zuwandte, war sie sehr
bleich, aber doch gefaßt. »Er ist … tot, sagen Sie?«
    »Ich weiß nur, daß er in der Weihnacht plötzlich und unter
ungeklärten Umständen starb. Und daß Ihrer beider Anwesenheit in Kinkeig
erforderlich ist.«
    »Neil, wir müssen sofort zurück. So schnell wie nur möglich.« Sie
wandte sich an mich. »Was wäre die schnellste Möglichkeit? Geld haben wir
genug.«
    Geld hatten sie genug: sie fanden überhaupt nichts dabei, daß das
meiste davon in Goldmünzen war. »In zwanzig Minuten geht ein Zug nach
Carlisle«, antwortete ich. »Ich habe ein Taxi draußen; wir könnten es gerade noch
schaffen.«
    Miss Mathers ging zu Lindsay, der reglos dastand und mich mit großen
dunklen Augen ansah, und schüttelte ihn sanft an der Schulter. »Beeil’ dich,
Neil.« In aller Eile sammelte sie ihre Sachen zusammen. Erst als der Zug sich
schon in Bewegung gesetzt hatte, fragte sie mit einem Ton, als sei es eine
Frage von größter Bedeutung: »Sie kommen auch mit?«
    »Es wird eine gerichtliche Untersuchung stattfinden. Da ist es reine
Routinesache, Miss Mathers, daß ich Sie auf Ihrer Fahrt gen Norden begleite.«
    Erst nun sah ich so etwas wie Furcht in ihren Augen. »Ist mein Onkel –«
    »Ich weiß kaum etwas über die Sache. Ich komme aus London, nicht aus
Schottland.«
    Lindsay sprach, mit abrupter, rauher Stimme. »London?«
    »Sie mußten gefunden werden. Ich bekam den Auftrag, Sie zu suchen.«
    Von Liverpool nach Carlisle und von Carlisle über die Heide und
vorbei an den Städtchen des Grenzlandes nach Edinburgh stand ich die meiste
Zeit auf dem Gang des Zuges und verfluchte meine Arbeit. Ich glaube, ich war
dem Zauber des Mädchens erlegen. Von ihrer Vergangenheit wußte ich nichts, und
ihre Zukunft versprach nichts Gutes. Doch auf der rasenden Fahrt durch diese
wilde, einsame Landschaft, die noch heute ihre alten Geschichten von
Grenzfehden und Glaubenskrieg erzählt und die nun wie eine Büßerin dalag unter
ihrem Kleid aus Schnee, spürte ich, daß Christine Mathers ein Teil all dessen
war und daß ich sie im wahrsten Sinne des Wortes nach Hause brachte. Einmal,
kurz vor Moffat, kam sie nach draußen und stand eine Weile neben mir, und ihr
Blick war so sehr in die Ferne gerichtet, daß ich dachte, sie ist ganz in ihre
Erinnerung und ihre Ängste versunken. Doch dann sagte sie leise: »Die
Kiebitze.« Ich strengte meine Augen an und konnte sie gerade noch erkennen, wie
sie in der Abenddämmerung ihre Kreise zogen. In Kanada, habe ich mir sagen
lassen, gibt es nur wenige Vögel; wahrscheinlich dachte sie daran, daß sie
vielleicht nie wieder einen Kiebitz sehen wird.
    Von Carlisle hatten sie ein Telegramm aufgegeben, und in Edinburgh
wartete schon ein junger Anwalt namens Stewart, der ihnen mit bemerkenswerter
Schnelligkeit aus Dunwinnie entgegengekommen war. Ich besorgte uns Unterkünfte
für die Nacht, so gut es ging, und am nächsten Tag fuhren wir weiter. Es lag in
der Natur der Dinge, daß es eine unbequeme, angespannte Reise war, und ich
fürchtete schon, daß Stewart sich hart geben und mir die Tür weisen würde. Doch
er war diskret: vielleicht ahnte er, daß ich für alle Fälle noch ein Papier in
der Tasche hatte. Lindsay sprach kein Wort, sondern vertiefte sich ganz in

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